Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
vollendete Yomi lächelnd. »Ich mache mir schon wieder zu viele Gedanken – aber vorsichtig sein müssen wir trotzdem.«
»Ja, das müssen wir.« Und mit den Augen dem Vogel folgend, der in den Wolken, weit über ihnen, noch immer dahinsegelte, fügte Yonathan hinzu: »Es gibt hier viele Lebewesen. Einige mögen alte Bekannte sein, andere dagegen fremdartig und neu für uns. Wer weiß, welche es gut mit uns meinen und welche nicht.«
Wie auf ein Stichwort erhoben sich die beiden Gefährten, warfen ihre Rucksäcke über die Schulter und setzten ihren Marsch in das unbekannte Land fort. Der Wald, den sie nun betraten, war von eigenartiger Natur. Er schien jede heitere Stimmung sofort zu dämpfen. Yonathan hatte so etwas noch niemals zuvor gesehen. Er erkannte an Yomis ängstlich umherschweifendem Blick, dass er genauso empfand. Ja, Yomi, der zehn Jahre lang dem abergläubischen Gerede der Seeleute ausgesetzt gewesen war, musste dieser Wald geradezu gespenstisch erscheinen. Die Bäume waren hier in der Bergregion noch recht niedrig. Sie erinnerten Yonathan an die wenigen Buchen, die im Finkenwald an geschützten Stellen wuchsen – und doch waren sie eher Zerrbilder der herrlichen Laubbäume mit ihren weit ausgreifenden, runden Kronen. Sie waren gedrungen und stämmig, als laste das gesamte Gewicht des Himmels auf ihnen, Kreaturen, die sich winden, ducken und krümmen mussten unter ihrer Last. Die stahlgraue Rinde der Bäume trat nur an wenigen Stellen zutage, so dicht warensie mit blassgrünen Moospolstern bedeckt. Von den Ästen hingen graue Bartflechten herab. Im Morgennebel sahen sie aus wie ein Heer uralter und fremdartiger Wesen. Zwischen diesen Gestalten bedeckten Moosfarne wie ein dichter grüner Teppich den Waldboden.
Yomi warf Yonathan einen fragenden Blick zu: Sollten sie wirklich durch diesen unheimlichen Wald wandern?
Yonathan sagte: »Komm, wir wollen uns beeilen, damit wir diesen ungemütlichen Ort möglichst schnell hinter uns bringen.«
So wurde aus ihrem zögernden Vortasten ein Marsch mit trotzigen, ausgreifenden Schritten. Ein wenig vorsichtiger hätten sie schon sein können, aber die vielen Augen, dieungesehen zwischen Bäumen, Ästen und Blättern hervorlugten und die beiden Eindringlinge beobachteten, gehörten wohl friedfertigen Wesen.
Zephon – Der schlafende Baum
Zwei Tage lang waren Yonathan und Yomi nun schon im Verborgenen Land unterwegs. Längst lag der gespenstische Buchenwald hinter ihnen. Am Mittag des ersten Tages hatten sie flacheres Terrain erreicht, und die Vegetation änderte sich abermals. Die Bäume wuchsen hier höher in den Himmel, sie glichen den Beinen erstarrter Riesen, deren Oberkörper und Kopf von einem grünen Gewand fleischiger, glänzender Blätter verdeckt wurden. Viele Bäume hatten Luftwurzeln, die wie lange Schiffstaue herabhingen und Yomi oft gute Dienste leisteten. Bei jeder Rast erklomm er nämlich einen der Giganten, um nach der im Osten gelegenen Bergkette des Drachengebirges Ausschau zu halten. Dank dieser waghalsigen, aber notwendigen Klettereien gelang es den beiden Freunden ihren Südkurs beizubehalten.
Neben dem Pflanzenbewuchs hatte sich leider auch das Wetter geändert. Es hatte zu regnen begonnen. Anfangs störte der Regen noch wenig – das dichte Blätterdach der großen Bäume hielt die meiste Feuchtigkeit ab. Doch nach einigen Stunden waren Yonathan und Yomi durchnässt bis auf die Haut. Zwar war kaum zu befürchten, dass sie sich erkälteten – die feuchte Hitze war mittlerweile bis an die Grenze des Erträglichen angestiegen –, dafür wurde während der Nacht der Schlaf vom Regenwasser hinweggeschwemmt. Kein Wunder, dass die beiden Wanderer ihren Marsch schon lange vor Sonnenaufgang fortsetzten.
Der Regen verebbte mit dem ersten Tageslicht; eigentlich hätte man von Tagesdämmerung sprechen müssen, denn das ständige Halb dunkel unter den grauen Wolken und dem schier undurchdringlichen Blätterbaldachin nahm der Sonne viel vonihrer Helligkeit. Über dicke Moospolster, unter denen immer, wenn ein Fuß auf sie trat, Wasser hervorsprudelte, setzen Yonathan und Yomi ihren Weg fort. Sie waren froh darüber, dass die Feuchtigkeit nun nicht mehr von oben auf sie herabtropfte. Es genügte ihnen klamme Kleider auf dem Leib zu tragen, ihre Füße ununterbrochen in dem wasserdurchtränkten Moos zu baden und eine feuchte Luft zu atmen, die es ihnen unmöglich machte, zwischen dem eigenen Schweiß und der sich auf der Haut
Weitere Kostenlose Bücher