Nesthäkchen 03 - Nesthäkchen im Kinderheim
Antwort zu geben.
»Oll Vadder Hinrich will uns doch mitnehmen«, stieß Peter schließlich möglichst sicher hervor.
»Wat willst?« Mutter Antje wandte sich jetzt zu ihrem Mann. »De lütten Kinners willst du mit op See nehmen, wo uns' Fru Kaptän dat doch ihr Lebtag nich zugewen (zugeben) dät. Jo, is ehr Haar denn woll noch nich weiß genug?«
Annemarie begann zu weinen. Der Erinnerung an die weißen Haare der Frau Clarsen hatte es nur noch bedurft, um ihr das Unrecht, das sie begehen wollte, völlig vor Augen zu führen. Peter rührte das weniger. Der machte sich mit einem verächtlichen »Alte Klatsche!« schleunigst davon. Oll Vadder Hinrich aber brummelte vor sich hin: »I, dat is doch nix nich so Slimmes, wenn so 'ne lütte Görens mal mit up See wulln!«
Mit bedeutend leichterem Herzen verließ Annemarie das Friesenhäuschen, als sie es betreten hatte. Eigentlich war sie heilfroh, daß Mutter Antje noch zur rechten Zeit dazwischengefahren war. Bald ruhte sie wieder brav und zahm neben Gerda und ihrem Liegestuhl, als ob sie nie die Absicht gehabt hätte, auf Seehundsjagd zu gehen. Von nun an wollte sie aber auch bestimmt, falls der böse Peter sie wieder mal zu etwas Verbotenem verleiten würde, an die weißen Haare der Frau Clarsen denken.
Ja, wenn Nesthäkchen bloß nicht solch ein kurzes Gedächtnis gehabt hätte. Auch Peter hatte es leider. Denn seine Absicht, das alberne Ding nie wieder in seine Geheimnisse einzuweihen, da Mädchen den Mund nicht halten können, hatte er schon nach wenigen Tagen vergessen.
Die alte Näherin
Inzwischen hatte Fräulein Julchen mit Nadelkissen, Brille und Wachs ihren Einzug in Villa Daheim gehalten. Sie hatte das Fremdenzimmer bezogen. Von morgens bis abends surrte ihre Nähmaschine, und von morgens bis abends schwirrte auch die Unterhaltung in dem kleinen Raum. Wenn Tante Lenchen oder eine der anderen Damen die Kinder jetzt suchten, wußten sie gleich, wo sie sie finden würden. Wie beneideten alle Klein-Annekathrein, die noch keine Schule hatte und auch am Vormittag die Gesellschaft des Fräulein Julchen genießen konnte.
Zum Glück hatte Petrus ein Einsehen mit den Wünschen der Clarsenschen Kinder: Fast die ganze Woche goß es, was nur vom Himmel herunter wollte. Die Kinder konnten nicht aus dem Haus - zu ihrer größten Freude. Meer und Himmel verschwammen zu einem einzigen Grau, der Strand mit all seinen lustigen Burgen lag in dichtem Nebel. Umso gemütlicher war es im Zimmer der alten Näherin, wo schon am frühen Nachmittag die Lampe mit dem grünen Schirm brannte. Nicht einmal die großen Mädchen verschmähten es, sich bei der alten Näherin einzufinden. Da saßen sie alle, wie die Hühner auf einer Stange, nebeneinander auf dem großen Ausziehtisch, der zum Zuschneiden benutzt wurde.
Jedes der kleinen Mädchen brachte seine Puppe mit in die Nähstube. Da gab es bunte Flickchen und Puppenlappen in Mengen. Dort wurden unter Anweisung des guten alten Fräuleins Schürzchen, Hüte, ja sogar auch Kleider für die Puppenkinder angefertigt. Die Backfische halfen den Kleinen, und die Jungen trieben Unfug und störten.
Am schönsten aber war es, wenn Fräulein Julchen ihre Gruselgeschichten zum besten gab. Dann rückten sie alle noch näher zusammen, um sich nicht zu graulen.
»Erzählen, Fräulein Julchen, bitte, erzählen Sie uns was!« bettelten sie alle.
»Ja, aber recht was Gruseliges«, das war Peter, für den es nie toll genug werden konnte.
»Na, kennt ihr denn schon die Geschichte, wie unser Wittdün entstanden ist, Kinder?« Die Näherin putzte umständlich ihre Brille.
»Nein - nein, erzählen Sie!« Still wurde es in dem Stübchen. Nur die Nähmaschine rasselte die Begleitung zu Fräulein Julchens etwas heiserer Stimme.
»Ja, das war hier alles mal Meer früher, vor vielen hundert Jahren. Da hausten bloß die Wassergeister in ihren glasgrünen Smaragdpalästen tief unten auf dem Meeresgrund. Und die jungen Nixen, mit den Fischschwänzchen, die da saßen in ihrem grünlichen Dämmerlicht ließen sich von ihrer alten Großmutter am liebsten Märchen erzählen. So erzählte ihnen die Alte auch mal, daß weit, weit von ihnen ein Festland sein sollte, wo nicht alles Wasser war, wo es einen blauen Himmel gab und goldenen Sonnenschein. Grüne Wiesen und fruchtbare Felder, bunte Blumengärten und große steinerne Städte waren auf jenem schönen Festland. Die Erde nannte man es. Und Wesen lebten dort, die bewegten sich nicht wie die Bewohner ihres
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