Nesthäkchen 03 - Nesthäkchen im Kinderheim
die Stimme der alten Näherin geworden, und die Kinder hatten atemlos gelauscht. Furchtsam faßte Klein-Annekathrein nach den Rockfahnen des alten Fräuleins. Auch Gerda hatte herzklopfend die Hand ihrer Freundin Annemarie gefaßt. Keins sprach. Alle standen noch unter dem Bann des Märchens von der Entstehung Wittdüns.
»War das wundervoll graulich!« Annemarie, das Plappermäulchen, war die erste, welche die Sprache wiederfand.
»Ich geh' nie mehr abends auf die Dünen«, Vronli flüsterte es ihrer Schwester Gretli zu.
»Aber ich!« rief Peter, der sich so leicht vor nichts fürchtete, übermütig dazwischen. »Ich werde das Nixlein mal an seinem Silberhärchen ziepen!« Vorläufig begnügte er sich mit dem Zopf eines neben ihm sitzenden Mädchens.
Nach dem Abendessen winkte Peter Annemarie auf die Diele heraus.
»Du - ich habe 'ne feine Idee!« Wenn der Peter eine feine Idee hatte, war es sicher etwas Ungezogenes. Obwohl Annemarie das ganz genau wußte, siegte ihre Neugier.
»Was ist es denn - sag es mir doch, Peterchen.«
»Nee, du klatscht ja, dir erzähle ich nichts mehr« - er wollte sie nur noch neugieriger machen.
»Ehrenwort, rechte Hand - ich klatsche nicht«, Annemarie brannte vor Neugier.
»Wir wollen heute um Mitternacht an Fräulein Julchens Fenster als Quallenkönig anklopfen«, flüsterte Peter ihr mit unterdrücktem Lachen zu.
»Nee – nee - da graule ich mich selbst.«
»Sag' ich's nicht, du bist 'ne feige Memme!«
»Ach wo, feige bin ich gar nicht« -das konnte Annemarie nun mal nicht vertragen. »Aber um Mitternacht schlafe ich doch schon.« Die Kleine war glückselig, auf diese Ausrede gekommen zu sein.
»Na, es muß ja doch nicht gerade Mitternacht sein, es geht auch früher. Fräulein Julchen legt sich schon mit den Hühnern schlafen. Wenn wir da gegen zehn an ihre Fensterscheibe pochen, denkt sie bestimmt, es ist Mitternacht.«
»Geht aber doch nicht! Wie willst du denn an ihr Fenster klopfen? Das Zimmer hat doch keinen Balkon.«
»Schadet nichts«; wenn es sich um einen ungezogenen Streich handelte, war Peter nie um einen Ausweg verlegen. »Wir nehmen einfach eine alte Bohnenstange aus dem Garten. Von unserem Balkon aus reichen wir damit ganz bequem an Fräulein Julchens Fenster heran.«
Dagegen ließ sich nichts mehr einwenden. Schließlich war auch Nesthäkchen übermütig genug, um an dem Streich Gefallen zu finden. Wenn es sich von ihrem Balkon aus machen ließ, das war nicht so graulich. Vergessen waren wieder mal die weißen Haare der Frau Clarsen und die guten Vorsätze.
»Also Punkt zehn auf dem Balkon - für die Bohnenstange sorge ich - kannst dich ja öfters mal ins Bein kneifen, damit du nicht einschläfst«, damit war Annemarie entlassen.
Ob sie ihre Freundin Gerda einweihte? Nee, lieber nicht, die würde es ihr ausreden wollen - und Peter hielt sie dann doch für eine »Klatsche«.
Still wurde es in Villa Daheim. Überall waren die Lichter erloschen, alles schlief.
Nur in dem netten Zimmer mit den rosagetünchten Wänden warf sich ein kleines Mädchen schlaflos in den Kissen herum. Annemarie brauchte sich nicht erst ins Bein zu kneifen, um munter zu bleiben. Ihr Gewissen, das sie deutlich vor dem ungezogenen Streich warnte, ließ sie keine Ruhe finden.
Zehn Schläge hallten von der großen friesischen Bauernuhr unten in der Diele durch das schlummernde Haus. Da erhob sich Nesthäkchen lautlos und schlüpfte in seine Sachen. Noch einen sehnsüchtigen Blick auf die festschlafende Ellen und Gerda, dann huschte Annemarie durch einen Türspalt auf den Balkon hinaus.
Puh - was war das für ein schauriges Wetter! Der Sturm ächzte in den Bäumen, er raste um die Wette mit dem Meer. War das der Quallenkönig, der nach seinem Kind rief? Annemarie zitterte vor Angst und Kälte. Sie hatte Lust, wieder in ihr Bett zu entwischen. Aber da stand schon der Peter auf dem anliegenden Balkon mit seiner langen Bohnenstange. Der sollte sie nicht für feige halten.
»Pack an!« Mit vereinten Kräften wurde die Latte zum Fenster der sanft schlummernden Näherin geführt.
»Los!« Die Stange klopfte zart und behutsam gegen die Fensterscheibe.
Fräulein Julchen schlummerte weiter.
»Doller - der Quallenkönig pocht nicht so rücksichtsvoll« - wild schlug die Bohnenstange gegen das Fensterglas.
Mit lautem Geprassel fielen die Scherben, und das alte Fräulein fuhr kreischend aus dem Schlaf empor.
Peter hielt sich den Bauch vor Lachen, Annemarie aber eilte, weinend vor
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