Nesthäkchen 03 - Nesthäkchen im Kinderheim
Feststaat Aufstellung genommen. Ein wunderschönes Bild gaben die stattlichen Gestalten ab, mit ihren blonden Haaren unter den kleidsamen Häubchen, den sorgsam gefalteten Schürzen über den weiten knisternden Seidenröcken und dem alten Bauernschmuck auf dem geblümten Mieder. Das fanden auch die Kurgäste, die sich in Scharen an das Geländer des Steges drängten. Besonders oll Modder Antje mit ihrem runzligen Gesicht unter all dem jungen Blut wirkte rührend.
Sie hatte als älteste den Ehrenplatz in der Mitte.
Auch der Königin, die beim Landen von den Herren der Badedirektion begrüßt wurde, fiel das alte Mütterchen auf. Freundlich sprach die Königin es an und fragte es nach seinem Namen.
»Oll Modder Antje«, gab die zur Antwort.
»Ich freue mich, daß Sie noch so rüstig sind.«
Als die Königin der alten Frau auch noch die Hand reichte, ehe sie weiterschritt, meinte Mutter Antje erfreut zu ihrer Gevatterin: »Kiek eins, wo fründlich so'ne Fru Königin sein dut!«
Vor Villa Daheim warteten inzwischen die Clarsenschen Kinder, reizend in ihren weißen Kleidern anzusehen, neben den Damen in atemloser Spannung. KleinAnnekathrein, die einen Busch roter Purpurrosen im Händchen hielt, war ganz blaß vor Aufregung.
Annemarie stand hinten in der dritten Reihe auf den Zehenspitzen und reckte vergebens den Hals, um etwas zu erspähen. Solche Gemeinheit - da hatten sich die Lies und Lott, die beiden langen Backfische, grade im letzten Augenblick vor sie hingestellt. Und die rückten und rührten sich nicht von der Stelle.
Nun sollte eine Königin vorbeikommen, und Nesthäkchen konnte sie nicht sehen!
Da fiel ihr Blick auf die Nebenvilla, in der ein Kapitän wohnte. Als Zeichen dafür war vor dem Haus, wie überall auf der Insel, ein hoher Segelmast aufgepflanzt.
Wer aber saß da oben an der höchsten Spitze des Segelmastes? Kein anderer als der Peter. Seine grüne Rückseite war den Untenstehenden leuchtend zugekehrt.
Da besann sich Nesthäkchen nicht lange. Ganz dicht neben ihr stand ja auch der Clarensche Segelmast. War sie nicht in Arnsdorf mit Klaus um die Wette auf die höchsten Bäume geklettert? Während die Königin sich vom Landungssteg her der Villa näherte, während aller Augen gespannt die Straße entlang gerichtet waren, begann Annemarie an dem Segelmast emporzuklimmen. Sie war eine tüchtige Turnerin - bald saß sie hoch oben wie der Peter.
War das famos! Annemarie dachte nicht an ihr Stickereikleid, nicht daran, daß sie ja für alle Fälle als Ersatz für Klein-Annekathrein den Willkommensvers sprechen sollte. Die beobachtete nur, wie die Königin mit ihrem Gefolge näher und näher kam - so fein wie sie konnte außer dem Peter sicher kein anderes Kind sehen!
»So, Annekathrein, jetzt tritt vor und sprich laut«, flüsterte Tante Lenchen der Kleinen zu, als die Königin nur noch wenige Schritte von der Villa Daheim entfernt war.
Aber anstatt vorzutreten, verkroch sich Klein-Annekathrein hinter Tante Lenchens Rücken und fing vor Angst an zu weinen.
Zum Zureden war es zu spät - der »Ersatzmann« mußte vor.
»Annemarie, schnell, du mußt den Vers sprechen - wo ist Annemarie?« in höchster Aufregung flüsterte es Tante Lenchen ihren Kindern zu. Denn schon hatte die Königin vor der blumengeschmückten Kinderschar haltgemacht.
Aber keine Annemarie erschien, die klammerte sich hoch oben fest an ihrem Segelmast - sollte sie sich zu erkennen geben? »Annemarie Braun« - das war die Stimme der Frau Clarsen -jetzt mußte Annemarie antworten.
»Hier bin ich« - erklang es zur allgemeinen Verwunderung aus der Höhe. Und da kam es auch schon wie der Wind den Segelmast herabgerutscht, gerade zu Füßen der Königin.
Mit zerdrücktem und beschmutztem Stickereikleid, mit glühenden Wangen und schallender Stimme begann Nesthäkchen:
»Im freundlichen, meerumkränzten Wittdün,
Mit seiner Dünen sanftem Grün,
Die sich wie erstarrte Wellen von Sand
Erheben über den weißen Strand,
Mit seinen Möwen, den schwebenden, schnellen,
Lieblichen, schlanken Gespielen der Wellen,
Wohin zu uns den Weg du genommen,
Sei, hohe Frau, von Herzen willkommen!«
Die Königin konnte nicht ernst bleiben. Viele feierliche Empfinge waren ihr schon in ihrem Leben bereitet worden, aber ein derartiger noch nicht. Sie verbarg das lachende Gesicht in dem Rosenstrauß, den Klein-Annekathrein sich nun doch noch zu überreichen bequemte.
Dann wandte sie sich freundlich Annemarie zu: »Du hast deine Sache
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