Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
Natürlich hatte Annemarie zum Empfang Großreinemachen in den nicht immer so schön aussehenden Kästen abgehalten.
Aber auch zum Haustöchterchen hatte sich Nesthäkchen in den letzten Wochen herausgebildet. Großmama war schon alt, die sollte nicht viel tun. Und die Hanne sorgte wohl für Essen und Trinken, aber daß ein Tisch hübscher aussah, wenn eine Blumenvase darauf stand, das wußte sie nicht. Annemarie aber hatte das im Kinderheim gelernt. Auch die Fußbank brachte sie für die Großmama herbei und fegte nach dem Essen die Krümel von dem Tisch, ohne daß man es sie erst hieß.
Noch eins fiel dem zurückkehrenden Fräulein erfreulicherweise auf - das gute Einvernehmen mit Bruder Klaus. Der große Weltkrieg hatte den Krieg, der stets früher in der Kinderstube zwischen den beiden getobt, ganz beendet. Frieden herrschte mitten im Kriege bei Doktor Brauns Sprößlingen.
Am erstaunlichsten aber war Fräulein, als Annemarie ihr voll Künstlerstolz ihren ersten, selbstgestrickten Strumpf zeigte. Soviel Ausdauer hatte sie dem Wildfang niemals zugetraut. Ja, was der Krieg alles zuwege brachte!
»Wenn ich den zweiten Strumpf fertig habe, dann häkele ich Ohrenklappen für unsere Soldaten, und Leibbinden stricken wir und Kopfschützer. Wir haben nämlich gar keine Schule, Fräulein, bloß Handarbeit bei Fräulein Hering, weil aus unserer Schule ein Lazarett gemacht ist. Und die Großen haben eine Verpflegungsabteilung eingerichtet. Beim Herrn Direktor kochen sie Suppen, und da schmieren und belegen sie auch Stullen für die Soldaten. Und mein Taschengeld, Fräulein, das tue ich alles in unsere Büchse fürs Rote Kreuz. Margot, Ilse und ich, wir sind zu Vertrauensschülerinnen von unserer Klasse gewählt worden, wir sammeln immer alles Geld ein. Und auch Speck und Wurst und Wolle; Großmama und Hanne haben mir auch schon eine Menge geschenkt.«
»Ei, Annemiechen, da muß ich wohl auch etwas stiften«, das gute Fräulein holte aus ihrem Koffer sogleich mehrere Pakete Strickwolle, die sie der beglückten Annemarie für ihre Sammlung überreichte.
»Danke - danke tausendmal, mein geliebtes, goldenes Fräulein. Nun habe ich bloß noch eine einzige Bitte, aber die kann ich nur ins Ohr sagen.«
»Was mag denn das bloß sein?«
»Ich möchte so schrecklich gern wie früher ,du‘ zu Ihnen sagen, Fräulein«, flüsterte Nesthäkchen.
»Aber das ist doch ganz selbstverständlich, Annemie«, lachte Fräulein. Sie hatte es noch gar nicht gemerkt, daß die Kleine eine direkte Anrede bisher vermieden hatte.
Nun erst war Annemaries Freude über Fräuleins Rückkunft ohne jede Einschränkung, denn es hatte ihr doch viel Kopfzerbrechen gemacht, ob Fräulein das vertrauliche Du von früher auch nicht übelnehmen würde. Jetzt würde ihr des Abends auch nicht mehr nach Mutti so bange sein, da Fräulein bei ihr im Zimmer schlief.
Eigentlich waren alle im Hause recht froh über Fräuleins Wiederkehr, Großmama fühlte ein Teil der schweren Verantwortung für die Kinder schwinden, und Hanne dachte: »Wenn die Russen doch nach Berlin kommen sollten, ist wenigstens ein handfestes Frauenzimmer mehr im Hause zur Verteidigung.«
Auch Hans sah in ihr die Erfüllung aller seiner Wünsche, wie abgerissene Knöpfe und geplatzte Nähte, mit denen er Großmama nicht immer kommen mochte. Nur Klaus und Puck blickten trübe in die Zukunft. Beide waren während der Kriegswochen ihre eigenen Wege gegangen. Die von Puck führten zu sämtlichen Sofas der Wohnung, auf denen er es sich in Abwesenheit der Besitzer bequem gemacht hatte. Großmama konnte nicht immer hinterher und ihn herunterjagen. Aber Fräulein würde ihn sicherlich auf den Trab bringen. Ähnliches dachte auch Klaus, der sich nur zu gern aus der Straße herumgetrieben hatte. Alle beide sahen in Fräuleins Erscheinen das Ende ihrer goldenen Freiheit.
Nesthäkchen straft Japan
Fräuleins erste Tätigkeit im Hause von Doktor Brauns bestand in dem Nähen von Fahnen. Da wurde eine riesige schwarz-weiß-rote Familienflagge gefertigt, außerdem bat aber noch jedes der Kinder um eine eigene Fahne. Hans bemalte die seine mit dem preußischen Adler. Klaus ließ sie sich in den österreichischen Farben schwarz-gelb herstellen, um sie gleich von der Straße aus heraus zu erkennen.
Es war aber auch nötig, daß so viele Fahnen fabriziert wurden, denn Sieg über Sieg brachten die herrlichen Augusttage des eisernen Jahres 1914. Ganz Berlin war ein wehendes, wallendes Fahnenmeer. Bei
Weitere Kostenlose Bücher