Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
jung, ich kann schon noch ein halbes Stündchen länger in der Kälte stehen.«
»Dank – tausend Dank – du bist ein braves Kind – Gott wird dir deine gute Tat lohnen«, innig erfreut griff der Greis nach Annemaries Butter und gab ihr das Geld dafür. Unter dem beifälligen Gemurmel der Umstehenden nahm Annemarie den Platz des alten Mannes ein.
Merkwürdig, sie empfand jetzt Kälte, Schnee und Regen viel weniger. Das Gefühl, ein gutes Werk getan zu haben, machte sie von innen heraus warm.
An der Menschenschlange schob sich suchend ein Haulemännchen, die Kapuze der Lodenpelerine fast bist auf die Nase gezogen, entlang.
»Annemarie«, rief es aus der Kapuze heraus. Das Haulemännchen machte an Nesthäkchen Reihe halt. »Annemarie, du sollst gleich nach Haus kommen, deine Großmutter sorgt sich um dich. Ich will dich ablösen.«
»Nein, Trude, du hast doch erst das kranke Bein gehabt, du kannst nicht solange stehen – ich dir schön«, lehnte Annemarie ab.
»Ach, mein Bein ist längst wieder heil, davon merke ich nicht die Spur mehr – geh' nur nach Haus!«
»Aber ich bin viel wärmer angezogen als du, du wirst frieren!«, meinte Annemarie immer noch zögernd.
Trude lachte sie aus.
»Da hab' ich früher anders frieren müssen. Und die armen Kinder in unserm Haus, die jetzt schon mitten in der Nacht vor den städtischen Fleischverkaufsstellen antreten, haben auch mehr Kälte auszuhalten.«
Trotzdem drängte Annemarie der Trude noch ihre Überschuhe und ihre Muffe auf, dann sprang sie, so schnell die erstarrten Füße sie trugen, niesend nach Haus.
Hatschi – hatschi – Annemarie mußte lachen. Der Lohn für ihre gute Tat würde sicherlich in einem tüchtigen Schnupfen bestehen. Es war ja auch gar nicht nötig, daß der liebe Gott sie noch belohnte. Das Bewußtsein, dem alten Mann geholfen zu haben, war schon Lohn genug.
Aber als Nesthäkchen heimkam, als Fräulein ihm ausgewärmte Strümpfe und warme Schuhe hingesetzt und Hanne dampfenden Kakao gebracht, da legte Großmama mit frohen Augen vor das liebe, böse Kind, das für sie im Schneesturm stundenlang gestanden, einen Brief aus überseeischem Papier.
»Von Mutti – von meiner Mutti – endlich!«, jubelte Nesthäkchen los und küßte die feinen Schriftzüge, die sie monatelang nicht gesehen.
Doch als Annemarie las, daß die Mutter ganz fest hoffe, nun endlich bald die Erlaubnis zur Heimkehr zu erhalten, da verstummte der laute Jubel. Denn die höchste Freude äußert sich nicht lärmend, die bleibt still. Fest schmiegte Nesthäkchen den Kopf im Überschwang des Glückes an Großmamas Brust.
Ob der liebe Gott nicht doch jede Guttat lohnte?
Deutsche Sommerzeit
Mäxchen, das ‚Junghelferinnenkind‘, lief bereits im Hof auf seinen eigenen Beinchen herum und rief »Tatta«, wenn Annemarie am Fenster erschien, was in seiner Sprache Tante bedeutete. Von seinen Eltern war auf der Berliner Flüchtlingsstation keine Nachricht eingegangen, so angelegentlich Hans auch danach geforscht hatte. Man konnte wohl annehmen, daß dieselben ein Opfer der Kosaken geworden.
Seit Ostern hatte der älteste Braunsche Sprößling das Vaterhaus verlassen und regte die Schwingen zum selbständigen Flug ins Leben hinein. Hans hatte das Notexamen gemacht und endlich seinen heißen Wunsch, trotz Großmamas sorgenvollen Bedenken, beim Vater durchgesetzt. Er war bei der Marine eingetreten und wurde in Wilhelmshaven ausgebildet.
Klaus hatte dem Bruder entschieden geraten, lieber zu den Fliegern zu gehen. Das kam aber wohl daher, daß Klaus schon von klein auf eine besondere Tüchtigkeit im Fliegen gezeigt hatte. Er war seiner Ungezogenheit halber meistens aus dem Zimmer ‚geflogen‘.
Nesthäkchen war der Abschied von ihrem lieben Hänschen sehr schwer geworden. So stolz es auch war, daß nun auch der Bruder für das Vaterland kämpfte, er fehlte Annemarie an allen Ecken und Enden. Sie verdoppelte jetzt ihren Fleiß, um für den Bruder, der den Nordseestürmen trotzen mußte, warme Sachen zu stricken.
Dabei hatte Annemarie jetzt auch tüchtig in der Schule zu tun. Seit Ostern ging sie in die vierte Klasse, da wurden ziemliche Ansprüche an die Schülerinnen gestellt.
Die jetzt dreizehnjährige Annemarie war während der nun bald zweijährigen Kriegszeit ein Prachtmädel geworden. Die wenigen Schlacken, die dem verwöhnten Kinde anhafteten, hatte die ernste Zeit vollständig losgelöst. Selbstlos und hilfsbereit hatte sie Doktors Nesthäkchen gemacht. Und
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