Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
daß sie am verflossenen Tag wieder ein gut Teil brauner gebrannt war. Wenn das noch einige Wochen so weiterging, würde sie selbst Marlene und Ilse den Preis als Mohrenkopf streitig machen.
Merkwürdig war, daß Annemaries liebenswürdiges Wesen selbst die fremden Feldarbeiter bezwang.
Als die junge Großstädterin eines Morgens beim Garbenaufrichten tüchtig mit Zugriff, trat eine Fremdarbeiterin an sie heran.
»Ah ... schöner Tuch dies ... schöner Tuch!« sagte sie bewundernd und fuhr mit der Hand streichelnd über Annemaries Miedertüchlein. Da riß Annemarie kurzentschlossen das Tuch ab und reichte es der Überraschten.
»Möchten Sie das schöne Tuch gern haben? Hier, ich schenke es Ihnen.«
Die Frau war außer sich vor Freude. »Ah, gutte Frräulein ... schöne Frräulein ...«
Von diesem Tage an war Annemarie der erklärte Liebling der Arbeiterschaft.
»Eine kleine Satanshexe«, schmunzelte Onkel Heinrich.
Diese Freundschaft sollte sich ganz merkwürdig beweisen.
An einem Juliabend war's. Die Linden dufteten süß und schwer. Annemarie stand an ihrem Giebelfenster und löste ihr blondes Haar für die Nacht. Die Luft war köstlich. Das junge Mädchen konnte sich gar nicht entschließen, die Fensterläden zuzusperren.
Da löste sich ein dunkler Schatten von der weißen Hauswand.
»Frräulein ... Maruschka will sprrechen zu gutte Frräulein«, wisperte es mit dem Nachtwind herauf.
»Was wollen Sie denn?« fragte Annemarie.
»Ah ... Maruschka will sagen gutte Frräulein, was gegeben hat armes Frau schöne, rrote Tuch, wenn gutte Frräulein will fahrren nach Haus zur Maminka, können rreisen keine Tag mehrr ... keine Tag ... nurr morrgen.«
»Aber warum, Maruschka; gibt's denn wieder einmal keine Kohlen?«
»Wird kommen großer Streik. Frräulein wird nicht können nach Hause. Lange nicht.«
»Ich danke Ihnen jedenfalls, Maruschka. Aber so schlimm wird's ja nicht gleich werden.« Mit der Sorglosigkeit der Jugend schob Annemarie jede Möglichkeit einer frühzeitigen Unterbrechung ihres herrlichen Aufenthaltes von sich. Quatsch ... es wurde hier soviel gefaselt! Das war sicher wieder eines der beliebten Gerüchte. Sorglos schlief Nesthäkchen ein.
Als Annemarie am andern Morgen zum Frühstück herunterkam, war sie höchst verwundert, auch den Hausherrn, der sonst schon längst seinen Morgenritt machte, dort anzutreffen.
»Onkel Heinrich, du bist noch da? Fein! Da können wir nachher zusammen aufs Feld«, rief sie lebhaft.
»Du wirst heute nicht mit aufs Feld können, Kind.« Onkel Heinrich hatte tiefe Falten zwischen den hellen Augenbrauen.
»Warum denn nicht?« Annemaries Augen wanderten von Onkel Heinrichs finsterem Gesicht zu Tante Kätchen. Nanu? Hatte Tante Kätchen geweint?
»Annemie, es ist amtlich Nachricht gekommen, daß ab morgen vorläufig keine Eisenbahnen mehr verkehren.«
»Ach, Tante Kätchen, du hast doch selbst so oft gesagt, das sind alles nur dumme Gerüchte, denen man nicht Glauben schenken muß«, tröstete Annemarie. Und die nächtliche Warnung der Maruschka? Ach was, die hatte eben auch von dem Gerücht gehört.
»Diesmal ist es ernst. Es ist amtlich gemeldet«, mischte sich Onkel Heinrich hinein. »Und darum, Kind, können wir unter den bevorstehenden unsicheren Verhältnissen die Verantwortung deinen Eltern gegenüber nicht tragen. So schwer es uns wird, Annemarie, Tante Kätchen und ich halten es für richtig, daß du sogleich deine Sachen packst und deine Eltern telegrafisch in ...«
»Was ... rausschmeißen wollt ihr mich?« unterbrach ihn Annemarie. Onkel Heinrich und Tante Kätchen, die sie nie wieder hatten hergeben wollen, wollten sie heute schon los sein? Sie traute ihren Ohren nicht.
»Annemiechen, Liebling, du glaubst ja nicht, wie schwer wir uns zu diesem Schritt entschlossen haben.« Tante Kätchen zog das erstarrte Mädchen zärtlich zu sich heran. »Aber es muß sein. Am liebsten würden wir dir auch Elli und Bübchen mitgeben. Aber sie will ja durchaus nicht von uns fort.«
»Ich auch nicht. Ich will auch bei euch bleiben, Tante Kätchen. Schmeißt mich doch nicht raus ... bitte ... bitte!« Schwer war's, diesen lieben, bettelnden Blauaugen etwas abzuschlagen.
Aber Onkel Heinrich schüttelte trotzdem den Kopf. »Du kannst möglicherweise lange von deinen Eltern abgeschnitten sein. Das dürfen wir nicht riskieren. Du packst gleich deine Sachen und fährst mit dem Elfuhrzug. Bis München begleitet Herbert dich und setzt dich dort in den Berliner Zug.
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