Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
Eltern um ihr Ausbleiben sorgen. Vor allen Dingen ein Telegramm nach Hause senden. So unüberlegt das Backfischchen auch manchmal war, jetzt, als die Stunde es verlangte, handelte es verständig.
Die Post war nicht weit. Annemarie gab Rucksack, Eierkisten und piepsendes Gepäck in den Aufbewahrungsraum.
Vor der Post staute sich eine Menschenschlange. Alle wollten sie den Telegrafendraht in Anspruch nehmen. Da kamen die ersten schon wieder aus dem Postgebäude heraus.
»Telegrammdienst vorläufig gesperrt!« riefen sie aufgeregt.
»Da soll doch der Deibel 'reinschlagen!« machte sich jemand wütend Luft.
Plötzlich ertönte vom Bahnhof der Lautsprecher herüber: »Reisende nach Berlin können morgen um 6.30 Uhr weiterfahren. Der Zug fährt durch bis Berlin ... Potsdamer Bahnhof.«
»Wir müssen schleunigst in die Stadt gehen, sonst bekommt man keine Unterkunft in den Hotels mehr und hat das Vergnügen, bei Mutter Grün zu logieren«, sagte ein Herr zu seiner Frau in Annemaries Nähe.
Da zog schon eine Karawane die belebte Straße, die sich zur Stadt hineinwand, entlang. Ganz benommen schloß sich Annemarie dem Zuge an. Allein in einem Hotel in einer fremden Stadt ... so keck Nesthäkchen auch für gewöhnlich war, in diesem Augenblick versagte ihre Keckheit. Auch lastete ihr die Sorge der Eltern schwer auf der Seele und ließ ihren sonst so fröhlichen Mut nicht aufkommen.
Das Stadtinnere war beinahe erreicht, still und friedlich lagen Burg und Stadt im letzten Abendglanz. Da durchzuckte es Annemarie plötzlich heftig wie ein körperlicher Schmerz ... ihre Handtasche ... das Täschchen mit dem Hundertmarkschein ... wo war es?
Beim Aussteigen hielt sie es noch in der Hand ... bestimmt! Hatte sie es durch das viele Handgepäck auf dem Bahnhof verloren? Oder vor dem Postgebäude? Jedenfalls zurück, suchen ... suchen! Scharen von Menschen kamen ihr entgegen.
Die Menschenmenge auf dem Bahnhof hatte sich ziemlich verlaufen. Das Suchen auf dem Bahnsteig wurde dadurch erleichtert. Auf und nieder lief das junge Mädchen in grenzenloser Aufregung. Nirgends eine Spur von dem Täschchen. Weder Stationsvorsteher noch Gepäckträger hatten es gesehen. Auch im Handgepäckraum fand es sich nicht. Damit schwand Annemaries letzte Hoffnung.
Die Nacht zog auf. Ach, wer jetzt ein Dach über seinem Haupt, eine Lagerstatt sein nannte! Wie glücklich, wie beneidenswert war der!
Ohne Geld nachts in einer fremden Stadt! Nesthäkchen wußte nicht, wohin es sich wenden sollte, wo es einen Unterschlupf finden würde. Die Julinacht war warm. Längs der Landstraße hatte man Heuschober errichtet. Sollte sie dort unterkriechen? Nein ... nein ... das sonst so dreiste Mädchen war plötzlich wie ausgetauscht.
Du liebes Giebelstübchen in Arnsdorf, wenn sie sich doch noch dort geborgen fühlen könnte! Und daheim warteten die Eltern vergebens; wer konnte wissen, wann und wie sie heimkam! Wovon sollte sie inzwischen ihr Leben fristen? Ohne Geld, ohne Fahrkarte!! Es war zum Heulen. Zurück zu Tante Kätchen? Das ging nicht. Die Vettern würden schön lachen ... und außerdem brauchte man dazu auch Geld. Nicht mal einen Brief konnte man ohne Geld abschicken. Der Magen fing auch langsam an, sich zu melden.
Halt ... die Futterkiste von Tante Kätchen! Wie gut, daß sie die wenigstens noch hatte. Ja, hatte sie die denn noch? Sie hatte sie ja der Aufbewahrungsstelle übergeben und dafür eine Marke in Empfang genommen. Wo war die Marke? Annemarie kramte in ihren Manteltaschen und in ihrem Gedächtnis nach. Die Marke kam nicht zum Vorschein. Dunkel erinnerte sich Annemarie, daß sie die Marke auch in ihr Täschchen gelegt hatte. Folglich hatte sie die Tasche erst nachher verloren.
Ob der Beamte ihr das Handgepäck ohne Marke herausgab? Der Andrang war groß gewesen. Er kannte sie bestimmt nicht wieder. Versuchen mußte man es jedenfalls. Der Rucksack war noch umfangreich. Das war wenigstens ein Trost. O Tücke des Schicksals ... die Handgepäckstelle war bereits geschlossen. Aber der Wartesaal daneben sandte einladende Lichtstrahlen in das Dunkel hinaus. Ob sie sich hineinwagte?
Auf den Bänken, die an den Wänden des großen Raumes entlangliefen, saßen müde Menschen zusammengekauert. Größtenteils Reisende, die nicht in der Lage waren, ein teures Hotel aufzusuchen.
Annemarie gesellte sich zu ihnen. Die meisten schliefen. Einige waren damit beschäftigt, umfangreiche Schnitten zu vertilgen, andere beruhigten weinende Kinder. Annemaries
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