Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
gesunder Appetit wuchs, als sie andere essen sah und es sich selbst versagen mußte. Ihre Blauaugen blickten begehrlich.
Das gemeinsame Mißgeschick, das sie alle betroffen hatte, überbrückte das Fremdsein. Man plauderte miteinander und zählte die Stunden bis zur Weiterreise. Auch Annemarie beteiligte sich in ihrer freimütigen Art an dem Gespräch. Sie berichtete von ihrem Verlust und fand lebhaftes Mitgefühl. Ja, als man hörte, daß sie ihren Rucksack mit den Eßvorräten abgegeben habe und heute nicht mehr herausbekäme, wurden ihr von allen Seiten milde Gaben zuteil. Der eine reichte ihr ein Käsebrot, der andere Obst.
Der Mond guckte um die Ecke des Bahnhofsgebäudes. In der Fremde, wenn man sich verlassen fühlt, ist er einem ein guter Freund. Beruhigt senkte Annemarie den Blondkopf, sanft und gleichmäßig kamen bald die Atemzüge ... sie schlief inmitten der fremden Umgebung.
Freilich, beim Erwachen, da stand die Sorge, was nun werden sollte, gleich wieder vor ihr. Aber wenn man ausgeschlafen hat und der helle Tag einem entgegenlacht, sieht alles nur halb so schlimm aus. »Ach was, ich verkaufe die Arnsdorfer Eier und das Geflügel. Das bringt mir sicher so viel Geld ein, daß ich davon eine Fahrkarte nach Berlin lösen kann.«
Die anderen Reisenden machten sich zur Abfahrt fertig. Ganz verstohlen wischte sich Annemarie eine Träne aus den Augen, als ihr alle mitleidig »Auf Wiedersehn« zuriefen und »Alles Gute« wünschten. Plötzlich erinnerte sie sich, daß sie noch eine Flasche Kakao im Rucksack hatte. Sie hatte Tante Kätchen ausgelacht, daß die ihr soviel zum Futtern einpackte. »Ich fahre doch nicht nach Amerika«, hatte sie Einspruch erhoben. Nun kam ihr die liebevolle Fürsorge der Tante zustatten.
Ja, Kuchen! Der Beamte auf der Handgepäckstelle wollte ihr durchaus nicht ihr Gepäck ohne die Marke herausgeben. Da könnte ja jeder kommen, er mache sich strafbar, wenn er nicht nach seiner Vorschrift handele.
Annemaries Bericht von dem Verlust ihres Handtäschchens und ihre Bitten, sich doch nur etwas aus ihrem Rucksack zu essen nehmen zu dürfen, da sie solchen Hunger habe, erschienen durchaus glaubwürdig. Trotzdem wagte der Mann nicht auf eigene Faust zu handeln. Er sprach mit dem Stationsvorsteher. Der ließ sich von der jungen Reisenden ganz genau beschreiben, was in dem Rucksack enthalten sei. Als Annemarie schließlich noch einen einbeinigen Hampelmann aufzählte, den Bübchen ihr geschenkt hatte, schien auch der Stationsvorsteher von der Richtigkeit ihrer Angaben überzeugt. Er fällte ein salomonisches Urteil: »Den Rucksack dürfen Sie mitnehmen, das Geflügel und die Eierkisten bleiben hier, vielleicht verlangt sie doch ein anderer. Nach einigen Tagen können Sie sich die abholen.«
»Nach einigen Tagen« Jetzt erst wurde es Annemarie klar, daß etwas geschehen mußte, damit sie zu Geld für ihre Fahrkarte käme. Tante Kätchens Mundvorrat reichte bei sparsamer Einteilung höchstens noch zwei Tage. Und jede Nacht konnte sie doch auch nicht im Wartesaal sitzend zubringen. Es half nichts, sie mußte Geld verdienen, so viel, daß sie Unterkunft und Unterhalt davon bestreiten konnte. Und die Rückreisekarte vor allem.
In ungewöhnlicher Nachdenklichkeit machte sich Nesthäkchen, den Rucksack auf dem Rücken, zur Stadt auf.
Was konnte sie eigentlich? Wenig. Etwas Obersekundaweisheit, damit konnte man nicht viel Geld verdienen. Einige Mädchen in ihrer Klasse gaben jüngeren Schülerinnen Nachhilfestunden. Aber sehr einträglich war das nicht. Davon würde sie sich nicht ernähren können. Und dann mußte man erst Schüler haben. Ob sie sich zur Erntearbeit irgendwo verdingen sollte? Erntearbeiter waren jetzt gesucht, das wußte sie von Arnsdorf her. Aber wie oft hatte Peter sie ausgelacht. Dabei hatte sie doch wirklich schwere Arbeit niemals geleistet. Nee, damit war es wohl nichts.
Sie ging in die altertümliche, anheimelnde Stadt. Auf einem der schönen Plätze ging es lebhaft zu. Vor einem Zeitungsaushang standen mehrere Leute. Annemarie drängte sich nach vorn. Aber nicht die politischen Nachrichten interessierten sie, sondern nur das Anzeigenblatt.
»Gesucht« prangte mit fetten Buchstaben als Überschrift. Was wurde denn alles gesucht?
»Verkäuferin in der Bäckerei Lippold« das wäre gar nicht so übel. Berge von Streuselkuchen und leckeren Torten tauchten vor Annemarie auf. Aber dabei wurde sicherlich nicht freie Wohnung gewährt. Und das war für sie doch notwendig.
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