Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
zwischen ihm und Nesthäkchen. Denn Annemarie behauptete, durch das Gehämmer beim Lernen gestört zu werden. Während Klaus seinerseits geltend machte, daß bei Annemaries lautem Auswendiglernen der sanftmütigste Mensch die Tollwut bekommen könne.
Annemarie lernte augenblicklich in der Tat »mit Dampf« trotz der Kälte. Sie mußte fleißig sein, um bald Medizin studieren zu können. »Ich lerne, bis mir der Kopf raucht, da merke ich die Kälte nicht«, pflegte Annemarie zu scherzen.
In die Schule gingen die Mädel diesen Winter gern. Dort wärmte man sich wenigstens auf. Die städtischen Behörden wurden genügend mit Kohlen versorgt. Aber eines Tageswartete auch dort eine Überraschung. Herr Lustig, der Gesanglehrer, der die erste Stunde gab, da man zum Singen kein Licht brauchte, teilte den Schülern mit, daß der Unterricht heute zum letzten Mal im Lyzeum erteilt würde. Das benachbarte Knabengymnasium sollte künftig auch die Bildungsstätte der weiblichen Gymnasiasten werden. Der Unterricht würde nachmittags von zwei bis sieben Uhr dort stattfinden. Auf diese Weise würde die Heizung doppelt ausgenützt.
»Fein, da können wir uns wenigstens ausschlafen!« Annemarie Braun rief es begeistert.
»Mein Vater ist vormittags auf dem Gericht, da kann ich in seinem warmen Arbeitszimmer meine Aufgaben machen«, frohlockte Marlene.
»Ich auch« ... »Ich auch.« Es erhoben sich aber auch einwendende Stimmen: »Das geht nicht, ich habe zweimal in der Woche nachmittags Turnstunde« ... »Wir haben doch unseren Lesezirkel am Sonnabendnachmittag« ... »Meine Klavierstunde kann bestimmt nicht verlegt werden« ... »Unsere Tanzstunde fängt schon um sechs Uhr an, die versäumen wir auf keinen Fall ...« Trotz Turn-und Klavierstunde, trotz Lesezirkel und Tanzstunde hatten die Behörden kein Einsehen. Der Schulunterricht fand künftig am Nachmittag statt.
»Nun kann der Eskimo aus Grönland fortziehen«, erklärte Nesthäkchen daheim und beschlagnahmte täglich nach der Morgensprechstunde das behaglich warme Zimmer des Vaters.
Doktor Braun liebte diese Gemeinschaft eigentlich nicht. Er hatte gern sein Reich für sich. An seinen Schreibtisch durfte allenfalls Muttis ordnende Hand sich wagen. Und selbst dann behauptete er, daß ihm alles verlegt sei und daß man nichts mehr finde. Jetzt, wo sein huschliges Nesthäkchen sich an seinem Heiligtum breitmachte, war das schlimmer als je. Bald fehlte ein Rezept, bald ein Kassenbon.
Heute lag das Hörrohr nicht an seinem Platz, morgen wagte sich gar ein vergessenes französisches Buch zwischen medizinische Fachschriften.
»Wenn du deine Gedanken und deine Siebensachen nicht zusammenhalten wirst, marschierst du wieder nach Grönland zurück ... verstanden, Lotte?« drohte Doktor Braun seinem Nesthäkchen.
Das aber lachte zu Vaters Worten. »Ehe meine Frostpfoten nicht geheilt sind, darfst du mich nicht rausschmeißen, Vatchen. Sonst kriege ich am Ende auch noch die Grippe!« Der Schlaukopf wußte, wie besorgt der Vater stets gewesen war, daß sich sein Nesthäkchen in dem ungeheizten Raum etwas holen könnte.
Mutti aber sorgte sich eigentlich jetzt noch mehr, wo sie Annemarie im warmen Sprechzimmer ihres Mannes bei der Arbeit wußte. Wie leicht konnten dort noch Grippebazillen herumschwirren und ihr Nesthäkchen bedrohen. Fehlte doch jetzt schon die Hälfte der Klasse. Auch die Lehrer waren zum Teil erkrankt.
»Wir sind gefeit, Muttchen ... in ein Arzthaus wagt sich die Grippe nicht ... presente medico nihiel nocet«, prahlte Nesthäkchen mit seinen lateinischen Kenntnissen.
Aber die Grippe, die heimtückische, nahm keine Rücksicht auf Annemaries lateinische Gelehrsamkeit. Die schlüpfte ungesehen die mit roten Läufern belegte Treppe hinauf. Mit der aus der Schule heimkehrenden Margot huschte sie in die Thielensche Wohnung hinein. Dort scheuchte sie Margot mit brennender Stirn auf das Krankenlager. Auch die kleinen Geschwister ergriff sie. Doktor Braun ging manchen Tag dreimal hinüber, um nach den Schwerkranken zu sehen. Besonders Margot fieberte erschreckend hoch. Und wenn Annemarie den Vater nach dem Befinden der Freundin fragte, zuckte er nur die Achsel. Es stand sehr schlecht.
Annemarie hatte jetzt weder Lust zum Lernen noch zum Schlittschuhlaufen oder zum Tanzen. Still und gedrückt stand das ausgelassene Backfischchen am Fenster, hauchte Gucklöcher in die eisblumigen Scheiben und starrte zu Thielens hinüber. Dort waren die Fenster nicht zugefroren, da sie dem
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