Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
gewaltige Bärentatzen gepackt. Und wären die strahlenden Blauaugen nicht über der rosenroten Nasenspitze gewesen, so hätte wohl keiner in der Eskimokleidung das Nesthäkchen erkannt.
Hin und her tappten die Pelzschuhe, auf und ab. Denn es war unmöglich, bei der eisigen Temperatur am Schreibtisch zu sitzen. Mit den Atemwolken quollen lateinische Sätze durch die Maschen des grünen Rodelschals. Der Eskimo war so vertieft in seine lateinische Lektüre, daß er nicht merkte, wie sich die Tür hinter ihm öffnete.
»Jotte doch, so'n armes Wurm! Jeh doch bei deine Mutti, Annemiechen ... drin in der Wohnstube is es schön mollig.« Hanne blickte voll Mitleid auf den frierenden Eskimo.
»Nee, das geht nicht, Hanne. Drin ist mir zuviel Radau. Dabei kann kein Mensch Tacitus lernen«, klang es dumpf aus der Wollvermummung.
»Radau? Dir piept es woll, Kind. Deine Mutti ist die ruhigste Frau von der Welt. Wenn du selbst man keinen Radau machst!«
»Das verstehen Sie nicht, Hanne. Drin singt und flötet Mätzchen; Muttis Schere und ihr Fingerhut fallen abwechselnd runter. Und zum Überfluß bimmelt alle paar Minuten das Telefon. Zu Tacitus braucht man unbedingte Ruhe und Sammlung.«
»Na, denn friere meinetwegen weiter mit Tacitussen«, knurrte die Küchenfee.
»Da ... trinke mal erst das heiße Warmbier, was ich dich jekocht habe, Kind.« Sie stellte eine dampfende Tasse auf den Tisch. »Wenn man inwendig jut einheizt, braucht man auswendig keine Kohlen.«
»Hanne, Sie sind doch die Allerbeste, obwohl Sie solch ein Knurrteufel sind. Ich habe aber ein Mittel, das noch besser einheizt als Warmbier und Kohlen.« Damit kriegten die Bärentatzen des Eskimos die nichts Böses ahnende Hanne zu packen und begannen sie im Foxtrottschritt durchs Zimmer zu schleifen.
»Annemiechen ... biste denn janz und jar varrickt«, japste die Hanne atemlos.
»Tanz meinetwegen mit Tacitussen Foxtrott, aber mir laß jefälligst ungeschoren.«
Damit knallte sie die Tür hinter sich zu.
Der Eskimo lachte wie ein Kobold hinter ihr drein. Dann machte er sich über das Warmbier her. Wirklich, ganz mollig wurde einem danach. Noch ein paarmal die Arme um den Körper geschlagen, wie es Nesthäkchen den frierenden Gleisarbeitern bei der Straßenbahn abgesehen hatte, und nun wieder mit frischen Kräften an die Arbeit.
Die Klingel stand jetzt während der Sprechstunde nicht still. Denn Hand in Hand mit der Kälte schritt die Grippe durch die Straßen der Großstadt. Da war kaum ein Haus, das sie mit ihrem schlimmen Besuch verschonte. Die Ärzte hatten Tag und Nacht keine Ruhe. Und Doktor Braun, in seinem unermüdlichen Pflichteifer, gönnte sich kaum die Zeit zu den Mahlzeiten.
»Du treibst es so lange, bis du selbst nicht mehr weiterkannst, Ernst«, warnte seine Frau besorgt.
»Zum Essen und Trinken muß Zeit sein. Das dankt einen kein Deibel nich, wenn man nachher selbst auf de Nase liejt«, stellte Hanne fest.
Auch Annemarie bat den Vater unter zärtlichem Streicheln, sich doch ein wenig mehr Ruhe zu gönnen. Aber weder die Sorge seiner Gattin, weder Hannes Gebrumm noch Nesthäkchens Betteln vermochten Doktor Braun von seiner unausgesetzten Pflichterfüllung zurückzuhalten.
Dieses strenge Pflichtbewußtsein wurde, ohne daß der Vater es wußte, seinen Kindern zum nachahmenswerten Beispiel. Hans, sein Ältester, bedurfte dessen nicht erst. Der war schon als Schuljunge stets der Primus gewesen; der hatte seine Examina mit Auszeichnung gemacht und war jetzt als Referendar ebenso tüchtig und fleißig wie als Schüler. Mit Klaus hingegen lag die Sache anders. Klaus hatte stets das Wort befolgt: »Wer die Arbeit kennt und sich nicht drückt ... der ist verrückt.« Durch das Gymnasium hatte er sich mit viel Geschick glücklich hindurchgeschwindelt. Wie er durch das Abitur gerutscht war, blieb der Braunschen Familie ein ungelöstes Rätsel. Denn keiner hatte ihn jemals für das Abitur arbeiten gesehen. Jetzt aber, wo er den Vater Tag und Nacht im Dienste der Menschheit tätig sah, ging mit ihm eine gewaltige Änderung vor. Das äußerte sich darin, daß er bei den Kollegs nicht nur als Gast, sondern als regelmäßiger Hörer erschien, und daß er zu Hause für die gesamte Familie, Hanne und Minna mit eingerechnet, Stiefel besohlte, in denen allerdings kein Mensch laufen konnte, da stets irgendwo ein Nagel heimtückisch herausschaute.
Dafür machte aber diese segensreiche Beschäftigung umso mehr Lärm und wurde zum Apfel der Zwietracht
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