Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Hinblick darauf die Erlaubnis zum Studium gegeben? Und nun wollte sie so rasch fahnenflüchtig werden? Nein, nein, das durfte nicht sein! Sie mußten einander zu vergessen suchen, wenn es auch noch so schwerfallen würde. Sie mußten sich nach Möglichkeit aus dem Wege gehen.
Dieser Vorsatz wurde Annemarie dadurch erleichtert, daß Hans, als das Regengepladder ein wenig nachließ, ihren Arm nahm, um ihr bei dem recht glitschigen Abstieg über die blankgewaschenen Steine behilflich zu sein.
»Hunde, die entlaufen, werden an die Leine genommen«, scherzte er.
Da Annemarie am Arm des Bruders über nasse Baumstämme und ausgewaschene Wege hinabturnte, blieb Rudolf nichts anderes übrig, als ebenfalls ritterlich den Arm seiner Schwester zu nehmen. Insgeheim aber hätten die beiden Kavaliere ganz gern ihre Damen ausgetauscht. Der Viehdoktor ging mit Ilse, Neumann und Marlene bildeten den feuchtfröhlichen Schluß. So langte man, immerhin genügend aufgeweicht, drunten am Bahnhof an.
Das Zügle war natürlich längst über alle Berge.
Auf dem Ulmer Münster
Gewitterregen hält nicht lange an, bald scheint die Sonne wieder. Die durch die ungemütliche Feuchtigkeit und den versäumten Zug etwas niedergedrückte Stimmung des Schwäbischen Wanderbundes war von noch kürzerer Dauer. Als Annemarie entsetzt feststellte, daß ein Teil ihres kostbaren Mehls vom Regen fortgeschwemmt war - wie ein weißer Bach floß es von ihrem Rucksack den geblümten Dirndlrock hinab - da war die heitere Laune wiederhergestellt.
»Das reine Schlaraffenland, Neschthäkche. Die Mehlsupp' läuft dir schon den Buckel lang.«
Annemarie machte gute Miene zum bösen Spiel und lachte mit den anderen um die Wette.
»Jetzt komme mer nach Preuße, in euer Heimatland, jetzt sein mer auf preußischem Boden«, verkündete Neumann, nachdem man das Städtchen Hechingen im Rücken hatte.
»Das braucht mer nit erseht zu sagen, das merkscht schon am Lüftle«, spöttelte der zweite Schwabe.
»Wenigstens wird's Zügle bei uns in Preußen pünktlicher abgehen als in Schwaben«, warf sich Nesthäkchen patriotisch in die Brust.
Nesthäkchen sollte es auch noch anderweitig zum Bewußtsein gebracht werden, daß sie wieder in Preußen war. Als man von der Burg Hohenzollern zum Bahnhof zurückkehrte, stand dort ein Gendarm mit respekteinflößendem Schnauzbart.
»Bitt' schön, die Rucksack' zur Kontroll'!« verlangte er.
»Ja, was soll denn das heiße?« regte sich Krabbe auf. »In unserm Säckle, da ischt nix nit drin, als was mer für unsere Wanderfahrt halt brauche.«
»Zeigen's!« Der Mann des Gesetzes bestand darauf.
Ein Rucksack nach dem anderen passierte die Prüfung. Nichts Böses ahnend, öffnete auch Annemarie ihr noch immer umfangreiches Bündel.
»Ja, was haben's denn da?« verwunderte sich der Schnauzbart. »Das ischt doch Mehl.«
»Freilich«, bestätigte Annemarie stolz, »wunderschönes, weißes.«
»Das dürfe's nit mitführe, das muß i beschlagnahme!« Mit der ganzen Würde seines Schnauzbartes fuhr er Annemarie an.
Da packte Nesthäkchen die Wut. Was - ihr schönes, weißes Mehl für die Mutter, das sie tagelang in Hitze und Regen wie ein Packesel bergauf, bergab geschleppt hatte, wollte der Gendarm ihr nehmen? Sie riß die Tüte heraus - so - da flog das schneeweiße Mehl in einer lichten Staubwolke auf die graue Landstraße.
»Da können Sie sich's zusammenfegen, wenn Sie Lust dazu haben«, rief sie zornrot.
»Annemie - um Himmels willen -!« Die Freundinnen standen entsetzt.
»Das hättest du nicht tun sollen, du Hitzkopf«, meinte Hans bedenklich.
»Rechtschaffe recht hat's Neschthäkche! Da soll einem die Gall' halt nit überlaufe«, unterstützte sie der Viehdoktor.
Rudolf Hartenstein lachte von Herzen. »Diesen Schwabenstreich kriegen's halt zu Ihrer Hochzeit aufg'tischt, Annemarie.« Er blinzelte ihr übermütig zu.
»Ich heirate überhaupt nicht!« Mit derselben Wut wurde es herausgeschleudert wie das Mehl.
»Nimmer? Das war' aber schad'! Ich denk', Sie werden sich's halt noch überlegen.« Rudolf nahm den Entschluß nicht ernst.
Vorläufig überlegte der Mann des Gesetzes, und zwar so angestrengt, daß sein Schnauzbart erzitterte. Was für eine Strafe sollte er über die Verbrecherin verhängen?
»Das koscht Sie halt« begann er.
Neumann hatte bereits zwei Besänftigungszigarren aus der Tasche hervorgezogen.
»Aber gehen's her, um so a bißle Mehl, das ischt doch gar nit erscht der Red' wert.«
»Freili, das
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