Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
Eltern gern von ihrer Tätigkeit berichtet. Aber der fremde Herr war so freundlich und bescheiden, daß man ihn unmöglich abweisen konnte. »Ebert, Oberlehrer aus Berlin«, stellte er sich den Herrschaften vor.
»So siehste aus!« Nur mit Mühe hatte Ursel diesen rangenhaften Berliner Ausdruck unterdrückt. Denn dem Fremden mit seiner langen, etwas nach vorn geneigten Gestalt und der goldenen Brille vor den kurzsichtigen Augen sah man den Lehrer schon aus der Entfernung an.
Es ergab sich auch bald im Gespräch, daß er recht bewandert in den bayerischen Bergen war, in denen er fast immer die Sommerferien zugebracht hatte. In Mittenwald war er schon mehrfach gewesen und konnte Hartensteins wertvolle Fingerzeige und Ratschläge über ihr künftiges Eldorado geben. Der Professor machte sich dauernd Notizen. Der Oberlehrer ließ sich in ein Gespräch mit den Damen ein. Aber Vronlis ruhige Sachlichkeit war es vor allem, die ihm gefiel. Schließlich plauderten die beiden ausschließlich miteinander. Frau Annemarie hatte genug damit zu tun, sich still an der wieder vor ihr sitzenden Ältesten zu erfreuen. Ursel, die es nicht gewöhnt war, irgendwo zweite Geige zu spielen, besonders wenn Herren dabei waren, fühlte sich vernachlässigt und ein wenig ärgerlich. Wie kam denn dieser lange Schullehrer dazu, ihre Vronli, die sie so lange nicht gesehen hatte, derart in Beschlag zu nehmen.
»Komm, Vronli, wir wollen ein bißchen hinausgehen, es ist so warm hier«, unterbrach Ursel das Gespräch der beiden.
Vronli war sogleich dazu bereit. Arm in Arm schritten sie draußen auf und ab.
»Wie konntest du dich bloß so eingehend mit dem langweiligen Menschen einlassen, Vronli?« machte Ursel sogleich ihrem Herzen Luft.
»Dr. Ebert ist ganz und gar nicht langweilig, Urselchen. Er macht den Eindruck eines bescheiden und vornehm denkenden Menschen.«
»Puh - wenn ich das schon höre!« Ursel schüttelte sich. »Die ganze Langeweile meiner Schulzeit weht mich aus jedem seiner Worte an. Und was er für eine Haltung hat, wie ein zusammenklappbares Taschenmesser. Gut, daß der Rucksack ihn nach hinten zieht, sonst würde er nach vorn überklappen.«
»Ursel - aber Urselchen! -« Vronli mußte lachen, ob sie wollte oder nicht. »Dein loses Mündchen hast du dir noch immer nicht abgewöhnt. Auf das Äußere kommt es doch bei wertvollen Menschen nicht an.«
»Oh - man kann wertvoll und dabei doch schön sein. Da solltest du mal Milton Tavares sehen. Was hat der für eine elegante Haltung. Und gut sieht er aus. Den solltest du mal kennenlernen.« Ursel tat, als ob es außer Milton Tavares gar keinen anderen gab. Vronli zuckte gleichmütig die Achsel. »Wenn er keine anderen Vorzüge hat, dann ...«
»Oh, bitte sehr«, unterbrach sie die Jüngere lebhaft. »Er ist ein Violinkünstler, herrlich spielt er. Und liebenswürdig ist er und klug und so drollig, wenn er die deutsche Sprache verdreht.«
»Weiter nichts?« fragte Vronli, um Ursel zu necken.
»Und reich ist er - unglaublich reich. Sein Vater ist der Kaffeekönig von Brasilien. Und vor allem ist er ein glühender Verehrer von mir«, zählte Ursel die Vorzüge des Brasilianers auf.
»Hahaha!« Vronli mußte von Herzen lachen. »Kleines, du bist doch noch derselbe Backfisch geblieben. Wenn einer ein paar schwarze Augen hat und aus Brasilien ist, gleich bist du selig.«
»Durchaus nicht«, verteidigte sich Ursel, rot werdend. »Gerade das Gegenteil habe ich gesagt. Er ist in mich verschossen.«
»Na, schwärme du nur ruhig weiter für deinen Kaffeeprinzen.« Diesmal war es Vronli, die die Jüngere aufzog.
»Und du für deinen Kathederhelden«, gab sie schlagfertig zurück. »Gut, daß er nach Tirol geht und nicht etwa nach Mittenwald. Da sind wir ihn bald los.«
»Mittenwald ist das letzte bayerische Dorf. Es liegt hart an der Tiroler Grenze. Und Dr. Ebert wird seinen Aufenthalt unweit davon auf der Paßhöhe in Seefeld nehmen. Wir haben gemeinsame Bergtouren verabredet.«
»Viel Vergnügen dazu! Ich hoffe, in Mittenwald feschere Gesellschaft zu finden«, sagte Ursel ablehnend. Zu ihrem Mißvergnügen gewahrte sie, daß der Oberlehrer bei der Weiterfahrt mit freundlicher Selbstverständlichkeit - »edle Dreistigkeit« nannte es Ursel - wieder dasselbe Abteil der Karwendelbahn, die über Mittenwald nach Innsbruck führt, wie sie bestieg. Daß er sich dienstbereit mit ihren schwersten Gepäckstücken belud, fand sie dagegen ganz in Ordnung.
»Jetzt kommt eine herrliche
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