Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
Absatzgebiet für alles, womit man im Augenblick nichts Rechtes anzufangen wußte. »In der ländlich gesunden Atmosphäre wird man ihr schon Vernunft beibringen. Der Klaus nimmt halt kein Blatt vor den Mund, und die Ilse nimmt sie dafür tüchtig im Wirtschaftsbetrieb mit heran. Das wird dem Prinzeßchen guttun. Und dann können wir ja weiterschauen.« Der Professor griff nach seiner Zeitung, ein Zeichen dafür, daß das Gespräch erledigt war. Seine Frau, die sonst dieses Schlußzeichen zu respektieren pflegte, schüttelte den Kopf.
»Nein, Rudi, mit der Waterkant ist es nichts. Ursel hat mir vorhin bereits erklärt, daß es dort mopsig sei und sie nicht wieder hinfahren wolle. Wenn wir uns auch heute noch nicht über ihre weitere Zukunft entscheiden können, so hatte ich mir gedacht, ob wir sie nicht auf unsere Reise ins bayerische Hochgebirge mitnehmen wollen. Das würde sie mit der versagten Pyrmonter Fahrt aussöhnen, und die Schwestern, die sich so lange nicht gesehen haben, wären dann wieder mal beisammen. Auch verspreche ich mir von unserer pflichtgetreuen Großen einen guten Einfluß auf die Kleine.« Bittend schaute Frau Annemarie ihrem Mann in die Augen.
»Dein Nesthäkchen hat halt einen guten Anwalt an dir, Annemie. Na, meinetwegen - obgleich die Krabbe gewiß nicht eine solche Reise verdient hat. Also, dann bleibt's dabei: Der Hansi geht in den Ferien nach Lüttgenheide. Das ist ja für ihn das schönste. Und wir im August mit den beiden Mädeln nach Bayern. Schreib der Vronli, daß sie sich halt den Urlaub danach einrichtet. Weißt, grad bang ist mir schon nach unserer Ältesten.« »Mir längst, Rudi. Ich kann die Zeit kaum noch erwarten. So - und nun will ich dich nicht länger deiner geliebten Zeitung entziehen und wieder Sonnenschein bei unserem betrübten Nesthäkchen hervorzaubern.«
Als Frau Annemarie das Stübchen oben betrat, war das Nest leer, der Vogel ausgeflogen. Die Mädchen wußten nur, daß sie mit Cäsar fortgegangen sei. Eine Tasche oder ein größeres Paket habe sie nicht bei sich gehabt. Das war der Mutter immerhin eine Beruhigung. Denn ihrer erregten Jüngsten war es zuzutrauen, daß sie auch ohne die elterliche Erlaubnis nach Pyrmont abdampfte. Aber nein - Frau Annemarie atmete auf, als Ursel nebst Cäsar gegen Abend wieder auf der Bildfläche erschienen war. Sie hatten bloß einen weiten Spaziergang unternommen, auf dem Ursel sich wieder abreagiert hatte. Nun saß sie am Flügel und ließ sich von den herrlichen Beethovenweisen den Rest ihres Schmerzes fortspülen. Die Musik war für sie mit Milton Tavares identisch. Sie fühlte sich ihm nahe in den Beethovenschen Klängen, die sie gemeinsam gespielt hatten. Im Nebenzimmer beim Vater war noch ein verspäteter Patient, von dem Ursel nichts ahnte. Denn meistens pflegte der Professor zu dieser Zeit seine Besuche zu machen. Ursel ging jetzt zum Gesang über. Zu Übungen hatte sie wenig Lust. Sie begann gleich mit Schubert. Süß und voll klang ihre Stimme.
»Verzeihung, Herr Professor, für das unfreiwillige Konzert«, sagte der Arzt entschuldigend zu dem fremden Herrn. »Meine Tochter weiß nicht, daß ich noch Patienten da habe. Ich werde sogleich für Ruhe sorgen.« Er wollte zur Tür.
Aber sein Patient hielt ihn zurück. »Bitte, Herr Professor, gönnen Sie mir den Genuß, einmal eine wirklich schöne Stimme zu hören. Sie wissen, ich bin vom Fach, aber wie selten bekommen wir an der Hochschule eine derartige Stimme zu hören. Das ist Edelmetall. Herrlich - ganz herrlich. Hören Sie nur, diese Weichheit des Tones, diese Klangfülle - Ihr Fräulein Tochter studiert natürlich Musik?«
»Sie möcht's halt gern, aber ich hab' mich nicht dazu bereit finden lassen. Ich bin gegen eine Bühnenlaufbahn. Wenigstens bei meiner Tochter.«
»Oh, Herr Professor.« Der alte Herr wiegte bedauernd seinen weißen Kopf. »Sie wissen gar nicht, welch einer Unterlassungssünde Sie sich da schuldig machen. Das nenne ich die Menschheit um eine zu den schönsten Hoffnungen berechtigende Künstlerin bringen. Hören Sie nur das hohe C - mühelos und leicht wie eine Lerche.« Der Fremde geriet in Begeisterung.
»Meinen Sie wirklich, Herr Professor, daß meine Tochter ein derartiges Talent ist?« fragte Rudolf Hartenstein bestürzt. Er schien durchaus nicht darüber beglückt zu sein. »Zweifelsohne! Ein Sonntagskind, ein kunstbegnadetes. Geben Sie uns Ihre Tochter auf die Hochschule für Musik. Es muß ja nicht unbedingt die Opernlaufbahn sein,
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