Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
fest und zärtlich an wie früher, als sie noch Kinder waren. Wenn damals keiner mit Ursels eigensinnigem Köpfchen fertig werden konnte, die größere Schwester verstand es, auf Ursel richtig einzuwirken. Auch jetzt in den kurzen Ferienwochen machte sich ihr günstiger Einfluß auf die leicht empfängliche Seele der Jüngeren geltend. Vronlis Einfachheit und schlichte Art färbte unmerklich ab. Das Bild der Tavares mit ihrer Eleganz verblaßte hier ein wenig in der ursprünglichen Bergwelt. Aber es gab auch Stunden, ja ganze Tage, daß Ursel sich trotz der großartigen Natur wieder nach den Freunden sehnte. Wo sie sich überflüssig vorkam, vernachlässigt. Das war an den Tagen, an denen man gemeinsame Ausflüge mit dem in Seefeld wohnenden Oberlehrer Dr. Ebert unternahm. Man hatte gegenseitig aneinander Gefallen gefunden. Die Herren verstanden sich gut, und mit der jungen Säuglingsschwester schien der Oberlehrer sich noch besser zu verstehen. Meistens wanderten die beiden zusammen. Gott, war das mopsig, wenn die zwei sich so ernsthaft unterhielten. Wie konnte man sich nur über Weltanschauung und Philosophie, über politische und volkswirtschaftliche Dinge stundenlang unterhalten. Ursel fand es geradezu ungehörig von den beiden, daß sie sowenig Rücksicht auf sie nahmen. Rollte sie nicht wie das fünfte Rad am Wagen immer nebenher? War es nun in die steinerne Bergwüste des Karwendelhauses oder in das liebliche Inntal. Das war Ursel nicht gewöhnt, daß sie nicht den Mittelpunkt bildete, daß man sie seitlich liegenließ. Ja, der gelehrte, langweilige Schulmeister blickte offensichtlich von seiner geistigen Höhe auf sie herab, nahm sie gar nicht für voll. Er hatte nur Augen für Vronli.
Und Vronli vergaß Ursels Anwesenheit vollständig, wenn sie sich mit ihm unterhielt. Sie merkte gar nicht, wenn Ursel gekränkt zurückblieb und sich den Eltern anschloß. Ja, sie hatte Ursel sogar mal in ihrer ruhigen Art recht energisch verwiesen, als diese im gemeinsamen Stübchen ihr loses Mundwerk frei laufen ließ und Glossen über den Wandergefährten machte. Sie sei ein ganz unreifes Mädel, das einen solchen Menschen überhaupt nicht verstehen und würdigen könne. Ursels Abneigung gegen ihn wurde dadurch verstärkt.
Dies hinderte aber nicht, daß Vronli eines Tages - auf einer blumigen Alm, von der man weit hinaus in die Innebene hinunterschaute - mit glücklichen Augen vor die Eltern trat und ihnen Dr. Georg Ebert als ihren Verlobten zuführte.
»Ach, nee!« entfuhr es der Ursel, nichts weniger als erfreut, während die Eltern Vronlis Erwählten froh als Sohn begrüßten.
»Er ist ein Prachtmensch, dem man ruhig die Zukunft seines Kindes ans Herz legen kann«, sagte der Professor.
»Freilich, Rudi - er ist unserer Vronli würdig. Nur einen Fehler hat er: Er macht mich zur Schwiegermutter!«
»Verknurrt«
Über ein Jahr war seit jenen Sonnentagen in den bayerischen Bergen dahingegangen. Manche Veränderung hatte es in den kleinen Kreis des Hartensteinschen Familienlebens gebracht. Man hatte Hochzeit gefeiert. Zuerst eine stille Hochzeit, die von Hans Braun und Margot Thielen. Dann hatte Frau Annemarie sich darin finden müssen, nun würdige Schwiegermutter zu sein. Wenn der Professor guter Laune war und sie necken wollte, rief er sie stets mit diesem neuen Ehrentitel. Im Norden Berlins, irgendwo da draußen am Wedding, wo das Realgymnasium lag, an dem Dr. Ebert unterrichtete, hatte Vronli ihr junges Heim aufgeschlagen. Drei Zimmer waren es, klein und bescheiden. Ursel blickte ein wenig naserümpfend auf das Glück ihrer Schwester. Himmel, war das eine häßliche Gegend. Kaum ein grüner Baum ringsum zu sehen, und die Wohnung so eng, so spießbürgerlich. Dabei machten Vronli und ihr Mann einen so zufriedenen Eindruck, als wünschten sie sich gar nichts Besseres. Wenn Ursel sich auch mit dem Schwager allmählich angefreundet hatte, die Ansichten vom Glück waren eben verschieden. Sie, Ursel, würde sich in einer solchen Wohnung höchst unglücklich fühlen. Für sie mußte das Glück vornehmer ausschauen.
Vorläufig aber lag das Glück von Ursel in einer ganz anderen Richtung. Da hatte sie ganz andere Wünsche und Ziele. War sie doch diesen in dem Jahre fleißiger Arbeit, eifrigen Studierens an der Hochschule um ein gut Teil nähergerückt. Ursel Hartenstein war, wie es ihr bisher meist im Leben ergangen war, auch unter den Studierenden und Lehrern der Berliner Hochschule der Liebling geworden. Diesmal war
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