Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
sein, Mutterle.« »Ach, Vronli, du tust mir gut. Daß ich dich entbehren muß, mein Mädel! Da hab' ich doch in der ersten halben Stunde, in der wir uns allein sprechen, dir gleich mein Herz mit seiner Sorge ausgeschüttet. Anstatt, daß die Sache umgekehrt ist und du mir von dir berichtest.«
»Von mir ist nicht viel zu berichten, Mutterle. Das wenig Wissenswerte, mal ein Theateroder Museumsbesuch, darüber seid ihr j a durch meine Briefe unterrichtet.« »Theater- und Museumsbesuche interessieren mich augenblicklich nicht, Kind. Von dir selbst will ich etwas erfahren. Ob du dich wirklich befriedigt fühlst in deinem Wirkungskreis. Das will deine Mutter wissen, mein Herz.«
Stumm griff Vronli nach der Hand der Mutter und drückte sie. »Ich bin es gar nicht mehr gewöhnt, Mutterle, daß jemand nach meinem Innenleben fragt. Ein Jahr lang bin ich jetzt nur Schwester Vronli gewesen, die ihre Pflichten hat und die ihr Denken und Fühlen nur auf diese Pflichten einzustellen hat. Kaum, daß ich mich mal auf mich selbst besinnen kann. Freilich befriedigt mich die Arbeit, aber es gibt natürlich auch Stunden, wo man mal verzagt, wo man unterzugehen glaubt in der gleichmäßigen Strömung der täglichen Arbeit. Man sehnt sich dann hinaus zu irgend etwas anderem, Freudigem. Aber, wie gesagt, das sind kaum Stunden, eigentlich nur Augenblicke der Schwäche, die von der Notwendigkeit der Arbeit schnell wieder verdrängt werden.« Sinnend schaute Vronli in das bunte Blühen der Alpenblumen am Wege.
Die Mutter zog ihren Arm fester an sich. »Ich hab's geahnt, Vronli, ich hab's manchmal zwischen deinen Zeilen herausgelesen. Ein junges Menschenkind braucht auch noch etwas anderes als nur die Arbeit und die Befriedigung der Pflichterfüllung. Das ist keine Schwäche, sondern ein natürliches Empfinden. Wie gern wäre ich in solchen Stunden bei dir, mein Mädel, es wäre doch besser gewesen, du wärst in Berlin geblieben.« Aber Vronli schüttelte den Kopf. »Nein, Mutterle, es ist besser so. Ein selbständiger Mensch wie ich muß mal eine Zeitlang allein mit dem Leben fertig zu werden versuchen. Schon um zu wissen, was man an seinem Daheim hat.«
Still schritten sie nebeneinander weiter, bis Ursels Ruf: »Eine Gemse, da- dort oben an dem Grat - habt ihr sie gesehen?« sie aus ihrer Versonnenheit emporriß.
Der Professor, der mit Ursel vorangegangen war, erwartete die Damen. »Herrlich ist's, gelt?«
»Wir müssen uns schämen, Rudi. Vronli und ich haben uns nach der langen Trennung so eingehend miteinander unterhalten, daß wir kaum etwas von der herrlichen Gegend gesehen haben.«
»Weibsleut - müßt ihr denn immer und immer schwätzen. Dazu nehm' ich euch halt mit ins schöne Bayernland«, polterte der Professor scherzhaft. »So - jetzt bleibst bei deinem Ehemann, Annemie. Schaut's nur den prachtvollen Sonnenuntergang. Ich mein', so farbenprächtig geht die Sonne nur in Süddeutschland unter. Bei euch im grauen Norden sieht man so etwas nicht.« Das süddeutsche Blut des Professors machte sich geltend. »Und wie steht's mit der Waterkant, Rudi? Am Meer haben wir oft so prachtvolle Abendfärbungen genossen«, verteidigte seine Frau den Norden.
»Also hier ist's schön - und da ist's schön. Und es wird halt noch viel schöner - juchhu!« Das grüne Hütlein des Professors flog in die Luft.
Nein, war der Mann ausgelassen, in Ferienstimmung wie ein junger Bursch. Von seinen Patienten hätte wohl keiner den ernsten Arzt hier wiedererkannt.
»Ach, Rudi, ich bin dankbar dafür, daß ich mit dir und den Kindern - dem Hansi hätt' ich's auch gegönnt, aber der muß ja in die Schule - hier so herrliche Tage genießen darf«, sagte Frau Annemarie glücklich.
Ja, herrliche Tage wurden es für die Professorenfamilie. Petrus meinte es gut mit ihnen und ließ die Sonne jeden Tag in goldenem Glänze erstrahlen. In dem gemütlichen Gasthaus bei den braven Wirtsleuten fühlte man sich bald ganz daheim. Selbst Ursel war damit ausgesöhnt, daß es kein elegantes Hotel war, in dem man zu Mittag und zu Abend sich in Staat werfen konnte. Sie sang auf den Bergfahrten so hell und freudig, daß manch einer stehenblieb und der prachtvollen Stimme lauschte. Und daß selbst der Vater sie eines Tages zu packen kriegte: »Mädele, wenn du mal später die fremden Menschen durch deine Stimme halb so erfreust wie uns hier, dann will ich's nimmer bereuen, meine Einwilligung für die Hochschule gegeben zu haben.«
An Vronli schloß sie sich wieder so
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