Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
wenn Sie mit ihr sowenig einverstanden sind. Ich weiß nicht einmal, ob die Größe der Stimme für die Bühne ausreichen wird. Das muß man erst sehen, wie sie sich weiterentwickelt. Aber für den Konzertsaal ist es eine wunderbare Stimme.«
»Also für die Oper, meinen Sie, würde die Stimme doch nicht ausreichen?« Das schien dem Vater am meisten am Herzen zu liegen.
»Läßt sich nicht im voraus sagen. Die Sängerin ist sicher noch sehr jung und die Stimme daher entwicklungsfähig. Aber wenn es Ihrem Wunsche entgegen ist, so ist doch die Opernlaufbahn durchaus nicht das Erstrebenswerte. Im Gegenteil, ich stehe auf dem Standpunkt, daß eine wahrhafte Künstlerin im Konzertsaal viel mehr zur Geltung kommt.« »Und - und Sie würden meine Tochter an der Hochschule für Musik aufnehmen, Herr Professor Lange?« Die Frage klang noch immer zögernd und unschlüssig. »Ich glaube Ihnen die Gewißheit geben zu können. Ihre Tochter wird die Aufnahmeprüfung spielend erledigen. Wie alt ist die junge Dame?« »Im achtzehnten Jahr.«
»Hm - etwas zu jung. Im allgemeinen pflegen wir vor achtzehn Jahren keine Musikstudierenden aufzunehmen. Aber in diesem Falle glaube ich Ihnen versprechen zu können, daß man es nicht auf die paar Monate ankommen läßt. Solch eine Stimme wird die Hochschule sich nicht entgehen lassen. Besonders, wenn ich mich persönlich dafür interessiere.«
»Das wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Professor. Ich darf mich dann wohl später an Sie wenden.«
Das für Ursel inhaltsschwere Gespräch war beendigt.
Eine Stunde später beim Abendbrot war's. Ursel hatte heute nicht ihre sonstige Sicherheit. Dem Vater gegenüber hatte sie noch von gestern her ein schlechtes Gewissen. Hans war bei einem Freund, so daß Ursel nicht viel mit sich anzufangen wußte. Warum sahen denn Vater und Mutter sie bloß so merkwürdig an? Ursel rutschte verlegen auf ihrem Stuhl hin und her. Sie beschäftigte sich angelegentlich mit ihrem Butterbrot.
»Höre mal, Ursel«, begann der Vater da. Jetzt kam's, jetzt wurde die leidige Bankgeschichte noch einmal durchgekaut. Aber trotz alledem bedeutete es für sie schon eine Erleichterung, daß der Vater sie nicht mehr übersah und wieder mit ihr sprach. »Ja, Vater?« Es klang möglichst bescheiden.
»Hättest du Lust, an der Hochschule für Musik Gesang zu studieren?«
»Vaterle!« Ursel unterdrückte den Glücksausruf, der sich ihr von den Lippen ringen wollte.
Das war ja sicher nur Scherz. Unsicher blickte sie zur Mutter hin.
Aber die nickte ihr mit frohen Augen zu. »Ein Patient von Vater, Professor Lange von der Hochschule, hat dich heute singen hören. Der Herr will sich für dich verwenden, daß du, obwohl du noch nicht ganz das vorschriftsmäßige Alter hast, zum Herbst die Hochschule besuchst.«
»Muzi - das ist wahr? Kein Scherz?« Ursel konnte sie nicht fassen, die Glücksbotschaft. »Wollen's halt mal probieren, Mädel! Aber das sag' ich dir, deine Operngelüste laß dir halt vergehen. Dazu kriegst mich nimmer rum. Konzertsängerin magst meinetwegen werden, aber von der Bühne will ich nix wissen. Verstehst?«
Na, und ob die Ursel verstanden hatte! Die war längst von ihrem Stuhl, längst war sie ihrem Vater um den Hals gefallen und küßte ihn vor Seligkeit. Dann kam die Mutter an die Reihe.
»Ich will euch ja jetzt solche Freude machen, stolz sollt ihr auf mich werden«, versprach sie aufgeregt. »Und dem Bankdirektor will ich auch schreiben und mich entschuldigen, wenn du es wünschst, Vater. Und an der Reise nach Pyrmont liegt mir jetzt gar nichts mehr, wenn ich auf die Hochschule darf. Dann will ich überhaupt nicht mehr reisen.« »Das tut mir leid, Ursel«, meinte die Mutter lächelnd, die sich an der Glückseligkeit ihres Nesthäkchens weidete. »Vater und ich hatten andere Absichten mit dir. Wir wollten dich mitnehmen nach den bayerischen Bergen, aber wenn du nicht reisen magst...« Sie kam nicht weiter. »Wirklich - Muzi? Nach Bayern - zu Vronli? Ach, heute ist ein Glückstag für mich!«
Vronli
In dem großen Säuglingssaal des Schwabinger Krankenhauses quarrte es munter durcheinander. Aus all den Gitterbettchen, die wie Vogelbauer längs der Wand klebten, erhoben sich Stimmchen. Als ob die Kleinen wüßten, daß ihre treue Pflegerin sie auf einige Zeit verlassen wollte.
Schwester Vronli schritt noch einmal von Bettchen zu Bettchen, streichelte hier einen kleinen Schreihals beruhigend, rückte dort eine Wärmeflasche zurecht, bündelte
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