Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
noch in aller Geschwindigkeit strampelnde Beinchen in reines Leinen.
»So, Schwester Lotte, nun überlasse ich Ihnen meine kleine Schar. Sorgen Sie bloß gut für sie.« Schwester Vronli warf noch einmal einen liebevollen Blick auf all die Gitterbettchen, dann reichte sie der jungen Hilfsschwester, die sie vertreten sollte, die Hand zum Abschied. »Nun ist es aber Zeit für mich. Von der Oberin habe ich mich bereits verabschiedet.«
»Schwester Vronli, ich hab' doch halt öfters schon vertreten, aber so war noch keine Schwester um die Kleinen besorgt wie Sie. Froh waren sie alle, daß sie nun endlich in Urlaub durften. Und Sie stehen hier und können sich nimmer trennen. Sie werden halt noch den Zug versäumen.«
»Das schon nicht, Schwester Lotte. Ich bin sicher pünktlich. Aber nun Gott befohlen.« Schwester Vronli griff nach ihrem kleinen Handkoffer.
So - nun war sie draußen. In tiefen Zügen atmete sie die frische Morgenluft ein. Ah - das tat gut. Das Köfferchen war leicht.
In die wartende Masse, unter der sich auch Vronli befand, kam Bewegung. Schwarze Rauchwolken erfüllten die Bahnhofshalle. Der Zug brauste ein. Aus dem Fenster eines Abteils lehnte schon geraume Zeit ein blonder Mädchenkopf. O Gott, war man denn noch immer nicht da? Die ganze lange Nachtfahrt war der Ursel nicht so lang geworden wie die letzten Minuten. Sie freute sich unsagbar auf Vronli. Hatte sie doch zuerst gar nicht gewußt, wie sie die Trennung ertragen sollte. Denn bei all ihrer Verschiedenheit waren die Schwestern ein Herz und eine Seele. Frau Annemarie, nicht weniger erwartungsvoll, ihre Große nun endlich wiederzuhaben, trat neben Ursel. Angestrengt überflogen ihre Augen die Menschenreihen. Endlich entdeckte sie eine vom Gitter her winkende Gestalt. »Vronli - mein Vronli...«
»Mutterle, mein liebes. Oh, wie gut schaust du aus, kaum älter als Ursel. Nein, was ist das Mädel groß und erwachsen geworden! Grüß dich Gott, Vaterle. Wir müssen eilen. Der Zug ins Gebirge ist stets überfüllt.« Obwohl aus jedem Worte Vronlis die innige Freude des Wiedersehens sprach, konnte sie es doch äußerlich nicht so an den Tag legen wie Ursel, die sie beinahe vor Glückseligkeit erdrückte.
»Vronli, geliebtes Kindl! Wir haben uns die Augen nach dir ausgeschaut.« Zärtlich hängte sie sich in den Arm der großen Schwester.
Mit glücklichen Augen betrachtete Frau Annemarie die zwei Mädchengestalten. Vronli überragte Ursel, die durchaus nicht klein war, noch um einen halben Kopf. Stattlich und kräftig war sie, die Vronli.
Nun war man glücklich in dem überfüllten Zug nach Partenkirchen, wo man dann nach Mittenwald umsteigen mußte.
Nein, wie verschieden die beiden Mädel waren. Kaum denkbar, sie für Schwestern zu halten. Die blonde Ursel in ihrer Lebhaftigkeit, die der Vater an die »Leine« genommen hatte, aus Angst, daß sie von der Plattform herunterfallen könnte. Und die ältere Schwester mit den klaren grauen Augen, aus denen die richtige Güte des Vaters blickte. Aber jetzt, als Vronli lachte - Ursel hatte sich wieder einen Ulk geleistet -, als eine Reihe prachtvoller Zähne sichtbar wurde, dachte Annemarie voll Mutterstolz: »Das hat sie doch von mir.« Das bayerische Hochgebirge tauchte in blaugrauen Konturen am Horizont auf. Ein Mitreisender, ein noch jüngerer, hagerer Herr mit goldener Brille, nannte Hartensteins die Namen der Spitzen und Höhenzüge, die allmählich immer sichtbarer wurden. »Da - die Zugspitze.«
»Schnee, da liegt ja noch Schnee!« schrie Ursel begeistert.
»Freilich, mein Fräulein, Neuschnee allerdings, den wird die Sonne bald wieder verjagt haben«, meinte der Reisegenosse, über ihre Begeisterung lächelnd.
Als man in Partenkirchen eine Stunde Aufenthalt hatte und sich im Bahnhofsrestaurant an einer Tasse Kaffee stärkte, bat der Fremde um die Erlaubnis, an demselben Tisch Platz nehmen zu dürfen. Hartensteins waren eigentlich nicht so sehr begeistert davon. Was hatte man sich nicht alles zu erzählen, wobei ein Fremder störend war. Ursel brannte darauf, Vronli zu berichten, daß Onkel Hans und Tante Margot heiraten würden; daß sie nun doch Gesang studieren durfte.
Das wußte Vronli doch alles noch nicht. Überhaupt die Tavares! Wenn sie auch der Schwester brieflich von den neuen Freunden vorgeschwärmt hatte, sie mußte ihr doch ganz ausführlich von ihnen erzählen.
Vronli wiederum hatte manche Frage nach Hansi, den Verwandten und Freunden daheim auf dem Herzen. Sie hätte den
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