Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
Geh nur inzwischen nach oben, Marga.«
Nicht einmal der Schwester mochte er es eingestehen, daß ihm die ausbleibende Freundin keine Ruhe ließ.
Als der Brasilianer den Steinplatz überquert hatte, sah er bereits einen bräunlichen Regenmantel vor dem Portal der Hochschule ganz gemütlich auf und ab schlendern. Daß er zu Ursel gehörte, war außer Zweifel, obwohl er dem Brasilianer den Rucken wandte. Blondes Haar, wie nur sie es hatte, quoll unter dem Lederhütchen hervor. Aber er ging nicht allein, der bräunliche Regenmantel. Ein gelber Gummimantel wanderte daneben. Auf und ab - ohne Schirm, als sei es das herrlichste Maienwetter, und nicht ein Novembergeriesel, das einen in der Seele frösteln machte.
Die beiden waren im lebhaften Gespräch, so angeregt, daß die junge Dame das Näherkommen des Brasilianers gar nicht bemerkte. Bis er ihr in einer Eifersuchtsaufwallung den Weg vertrat.
»Ah, Herr Tavares!« Erfreut streckte Ursel ihm die Hand entgegen. »Was haben Sie denn hier zu suchen?«
»Sie«, gab der Brasilianer, zu stolz, um eine Ausrede zu erfinden, geradezu zur Antwort. »Es ist bald zwei Uhr. Madame Hanne hat schon gebringt der Suppe. Und Frau Großmama sitzt an Fenster und wartet.« Daß er selbst gewartet hatte, sogar auf dem Balkon, das behielt er für sich.
»Oh, ist es wirklich schon so spät, daß man nach mir aussendet? Da haben wir uns aber tüchtig verschwatzt, Paul. Also wir reden morgen weiter von der wichtigen Angelegenheit.« Ursel nahm sich nicht mal die Zeit, ihren Begleiter vorzustellen, sondern schüttelte ihm verabschiedend die Hand.
Ganz gegen seine Gewohnheit schritt der Brasilianer schweigend neben Ursel her, sie ritterlich mit seinem Schirme beschützend. Wer war jener Paul, der sie so lange aufgehalten hatte, daß sie darüber das Heimkommen vergaß? Sicher ein Musikschüler.
Und was war das für eine wichtiges Gespräch, das morgen fortgesetzt werden sollte?
»Nun, Herr Tavares, ist Ihnen bei dem Regenwetter die Sprache davongeschwommen?«
fragte Ursel, ihn erstaunt von der Seite betrachtend.
»Werr ist Paul?« gab der Brasilianer statt einer Antwort die Frage zurück.
»Paul? Was für ein Paul? Ach so, Sie meinen den jungen Tenor. Prächtige Stimme, wird sicher mal was Großes erreichen.«
Dem Brasilianer war das durchaus gleichgültig. »Sie sind bekannt mit ihm serr gutt?«
Dieses war ihm weniger gleichgültig.
»Ja, natürlich, wir studieren doch zusammen.«
»Nennt alle Schülers an Hochschule sich bei Namen oder nur Paul«, wollte der eifersüchtige Brasilianer noch wissen. Ursel sah ihn groß an.
»Wir Hochschüler nennen uns meistens beim Vatersnamen. Aber was interessiert Sie das denn eigentlich?« fragte sie mit spitzbübischem Lächeln. Es machte ihr ungeheuren Spaß, ihn zappeln zu lassen.
»Serr interessiert. Sie promenieren mit Paul vierzig Minuten bei häßliches Regenwetter, hin, her. Frrau Grroßmama wartet, Madame Hanne wartet mit Suppe, Marga wartet, mich wartet. Ich will wissen, warrum Sie tun das?« In seiner Eifersucht sprach er in befehlendem Ton.
Damit kam er aber bei Ursel an die Rechte. Sie warf den blonden Kopf mit dem Lederhütchen zurück und sagte abweisend: »Weil es mir Spaß macht. Und im übrigen geht Sie das durchaus nichts an.«
»Oh, geht an mir viel, serr viel.« Da waren sie an dem Braunschen Hause angelangt. Man saß oben bereits am Tisch. Es mußte auf die übrigen Pensionäre, einen Schweden, eine Russin und eine Schweizerin, Rücksicht genommen werden.
Mit grimmigem Gesicht empfing Hanne die beiden. »Na, später kannste woll auch nich kommen, Urselchen. Führ man bloß nich sone neuen Moden hier ein. Und Sie, Herr Tavares, brauchen auch nich jrade loszujondeln, wenn ich mit die Suppe komme. Nachservieren is 'n andermal nich!« sagte sie kurz und bündig.
Sonst pflegte Ursel die gute Alte bei derartigem Brummen, das öfters mal vorkam, sogleich durch ein gutes Wort zu besänftigen. Heute ärgerte sie sich über sie. »Dann muß ich eben, wenn es mal wieder später wird, woanders essen«, sagte sie kurz. Auch der Brasilianer vergaß seine höfliche Entschuldigung, die er sonst stets bereit hatte. Nanu? Hanne sah den beiden erstaunt nach. Hatten die sich miteinander verkracht? Das sah doch beinahe so aus.
Mit aufmunterndem Lächeln reichte Hanne Ursel die Schüssel. »Nimm, Kindchen, nimm! Ich hab' dir dein Leibjericht jekocht, Karpfen blau mit Meerrettichsoße.« Aber Ursel aß trotzdem nicht viel. Und gebrauchte
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