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Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste

Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste

Titel: Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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es nicht ihre reizende, bestrickende Persönlichkeit allein, sondern vor allem ihr Können, das die Lehrer wie die Schüler in Erstaunen setzte. Andere hatten wohl noch eine größere Stimme, nicht aber diesen süßen Schmelz, diesen samtweichen Ton. Sie hatte bei Frau Gerstinger eine gute Grundlage bekommen. Aber Ursel sah doch, daß sie recht getan hatte, an der Hochschule zu studieren anstatt bei der bonbonlutschenden Primadonna und ihrem Fidelio. Das war ein ganz anderes, ernstes Arbeiten und Streben mit Disziplin, wie in der Schule. Nur daß Ursel hier keine Dummheiten machte, sondern mit glühendem Eifer bestrebt war, alle Mitstudierenden möglichst zu überflügeln. Als Professor Lange sie zum ersten Mal den Herren Kollegen als ein junges, hoffnungsvolles Talent vorstellte, da stand es bombenfest bei ihr, daß sie diese Hoffnungen erfüllen müsse. Mit derselben Zähigkeit, mit der sie sich an der Bank gegen die ihr verhaßte Tätigkeit aufgelehnt hatte, machte sie sich jetzt an das Studium ihrer geliebten Musik. Rudolf Hartenstein stand manchmal vor einem Rätsel. Das hatte er seiner Jüngsten nicht zugetraut, daß sie sich so ins Zeug legen würde.
    Denn es handelte sich nicht allein um Gesang. Da gab es auch andere Fächer, Theorie, Musikgeschichte, Treffstunde, Deklamation, die Ursel weniger Freude machten und für die sie doch oft bis abends spät lernte und arbeitete.
    Professor Lange hatte dem Vater berichtet, daß Ursel seine begabteste Schülerin wäre. Das Fräulein Tochter erfuhr nichts davon, denn »dem Mädel schwillt halt gar zu leicht der Kamm«. Aber seiner Annemarie teilte Rudolf Hartenstein es mit.
    »Siehst du, Rudi, man darf sich seinen Kindern gegenüber nicht auf einen allzu rigorosen Standpunkt stellen. Paß auf, wir werden an unserem Urselchen noch große Freude erleben. Und daß du dem Hansi gestattet hast, an der landwirtschaftlichen Hochschule zu studieren, anstatt Medizin, die ihn nun einmal nicht lockt, war sicher ebenso richtig. Der Junge ist glücklich bei seiner Arbeit und denkt nicht mehr an Amerika.«
    »Na ja, Weible, recht hast du schon: Die Hauptsache, die Kinder leisten was in dem Beruf, den sie ergreifen, und ihre Tätigkeit ist ihnen halt eine Freud'.«
    Die Hochschule für Musik lag in Charlottenburg, unweit der Braunschen Wohnung. Hatte Ursel am Nachmittag noch Unterricht, so blieb sie zu Tisch bei der Großmama. Die Tavares lebten immer noch im Braunschen Hause, als ob es gar kein Land jenseits des Ozeans mehr gäbe. Milton Tavares fand, daß er noch nicht genug in Deutschland gelernt habe, weder das Kaufmännische noch das Musikalische. Das betonte er in jedem seiner Briefe, wenn der Vater mal ein wenig auf den Busch klopfte, ob die Kinder denn noch nicht ans Heimkommen dächten. Margarida hatte sich jetzt auch gut eingelebt. Sie beherrschte die deutsche Sprache, hatte nach wie vor bei ihrer Freundin Ursel Unterricht und fühlte sich bei Frau Braun wie Kind im Hause.
    Es war wieder mal Dienstag, an dem Ursel nachmittags zur Chorstunde in die Hochschule mußte. Seit einer halben Stunde stand Milton Tavares schon draußen auf dem blumenlosen Balkon, obwohl der feuchtgraue Novembertag mit seinem Regenschleier recht wenig einladend war. Margarida schien sich bei Einkäufen in der Stadt verspätet zu haben. Aber nicht nach der Schwarzhaarigen schaute Milton Tavares aus, sondern nach seiner Blondhaarigen. Wo sie nur blieb, die Ursel? Milton Tavares fröstelte. Er schlug den Kragen seiner eleganten Hausjoppe hoch. Brrr - war das ungemütlich in diesen grauen Novembertagen hier in Deutschland. Und doch - sobald Ursel Hartenstein erschien, vergaß er den häßlichen, grauen deutschen Winter.
    Nervös zog Milton schon wieder die Uhr. Ein Uhr vierzig - das ging nicht mit rechten Dingen zu, da mußte irgend etwas geschehen sein. Wenn Ursel es mit Pünktlichkeit auch niemals sehr genau nahm, so arg hatte sie sich noch nie verspätet. Die Hochschule war ja nur fünf Minuten entfernt. Das richtigste war, er schaute schnell einmal nach, wo sie blieb. Schon hatte Milton den Regenmantel übergezogen und war die Treppe hinunter, trotz Hannes energischen Protestes: »Jetzt wird nich noch mal wegjelaufen, ich komm' schon mit die Suppe.«
    Vor der Haustür hielt eine Taxe. Margarida sprang leichtfüßig heraus.
    »Ah, Milton - du wartest wohl schon auf mich?« fragte sie den Bruder in ihrer Heimatsprache.
    »Freilich - aber ich habe noch einen kleinen Weg, gleich bin ich wieder zurück.

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