Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
dabei ihr Mündchen doch bei weitem nicht zur Unterhaltung, wie das sonst der Fall war. Selbst der Großmama fiel die ungewöhnliche Schweigsamkeit ihres Lieblings auf.
»Du hast wohl heute einen anstrengenden Vormittag hinter dir, mein Herz?« erkundigte sie sich teilnehmend.
»I wo, ich hatte Ensemblestunde mit Paul, die mir viel Freude machte.« Irgendein kleiner Teufel legte der Ursel diese Worte auf die Lippen.
Herr Tavares hatte sich bisher kaum an der Unterhaltung der anderen beteiligt. Aber das war nur Ursel aufgefallen.
Was wollte er denn eigentlich von ihr? Sie hatte ihm doch nichts getan. Das wäre ja noch schöner, wenn sie nicht reden konnte, mit wem sie wollte. Ursels Trotzkopf meldete sich. »Omama, heute war ein Glückstag für mich. Paul hat mir zugeredet, mich zum ersten Januar für das Opernfach prüfen zu lassen. Er meint, ich werde sicher zugelassen; dann wollen wir zusammen Partien einstudieren.«
Da wurde der Stuhl ihr gegenüber jäh gerückt. Herr Tavares erhob sich, obwohl die Süßspeise noch nicht aufgetragen war, entschuldigte sich bei Frau Braun und verließ das Zimmer.
»Oh«, sagte Margarida bedauernd, »Bruder Milton ist err nicht gesund?«
Ursel, an die die Frage gerichtet war, zuckte gleichgültig die Achsel. Aber merkwürdig - Hannes Kunstwerk, die Schokoladenspeise, wollte auch bei Ursel nicht so recht rutschen.
Nach Tisch legte die Großmama sich stets ein wenig aufs Ohr. Ursel pflegte inzwischen bis zum Beginn der Hochschule mit ins Zimmer zu ihrer Freundin Marga zu gehen. Milton Tavares war dann ebenfalls Stammgast bei seiner Schwester. Die Geschwister hatten sich ein Instrument geliehen, das bei Marga im Zimmer stand. Frau Braun hielt ihr Mittagsschläfchen in ihrem Schlafzimmer ganz hinten, am andern Ende der Wohnung. So konnte man nach Tisch ruhig musizieren. Das pflegten die drei Freunde auch stets zu tun. Ja, manchmal waren sie so vertieft in ihre Musik, daß Ursel die Zeit und die Hochschule vergaß. Erst Hannes ärgerlich an die Tür bumbernde Faust: »Urselchen, Kind, hör' auf mit dem Jedudel, es is jleich vieren, du mußt in deine Stunde«, pflegte sie dann an ihre Pflichten zu erinnern.
Heute stellte sich Milton nicht in Margas Zimmer ein. Zum ersten Mal blieb er aus. »Bruder Milton hat Schmerzen in Kopf, liegt auf Sofa«, berichtete Marga, die nach ihm sah, besorgt der Freundin.
Oh, Ursel wußte ganz genau, was das für Kopfschmerzen waren. Deshalb brauchte Marga nicht in Sorge zu sein. Sie war grenzenlos enttäuscht, daß er nicht erschien. Hatte sie doch die Absicht gehabt, ihn mit einem guten Wort wieder zu versöhnen. Und nun war er »verknurrt«, und die Nachmittagsstunde, auf die sich Ursel stets am meisten freute, erschien ihr heute langweilig und schal.
»Wollen wir spielen, oder willst du singen, Ursel?« fragte Marga sie.
»Ach, ich habe heute schon soviel Musik gemacht, am liebsten ruhe ich mich ein bißchen
aus«, gab sie ausweichend zur Antwort und schmiegte sich in den Schaukelstuhl.
»Gutt - Bruder Milton hat auch Schmerzen im Kopf, mag nicht hörren Musik«, überlegte Marga.
Das erweckte wieder bei Ursel Trotz. Was - aus Rücksicht für Milton sollte sie nicht spielen, der überhaupt ganz andere Schmerzen als Kopfweh hatte - nun gerade. Da saß sie auch bereits am Klavier und paukte drauflos. Motive aus Wagneropern, Verdi, Mozart, alles bunt durcheinander, wie es ihr gerade einfiel. Lustig sang sie den Text dazu und riß mit ihrer ungezwungenen Heiterkeit auch Marga mit.
»Oh, wie so trügerisch sind Frauenherzen«, klang es aus »Rigoletto« zu dem lauschenden Brasilianer hinein. Nein, das sollte sich Herr Milton denn doch nicht einbilden, daß Ursel sich seinetwegen in ihrem Vergnügen stören ließ.
Heute brauchte Hanne nicht an die beginnende Hochschule zu erinnern. Pünktlich zehn Minuten vor vier stülpte Ursel wieder den Lederhut auf das Blondhaar. Milton Tavares hielt es nicht mal der Mühe wert, sich von ihr zu verabschieden. Ursel war dem Weinen nah, als sie die Treppe hinunterstieg. Ihr Trotz vermochte das Weh, das sie empfand, nicht zu unterdrücken. Hatte sie ihn denn wirklich so arg gekränkt?
Von dem Pfeiler des Hausportals löste sich eine schlanke Männergestalt. Ein Regenschirm ward über Ursels Kopf gehalten - Milton Tavares hatte unten auf sie gewartet. Stumm schritt er neben ihr her. Kein Wort sprach er. Ursel sah ihn ein wenig unsicher von der Seite an. Dann aber nahm sie all ihre Keckheit zusammen. »Warum
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