Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
auszustechen, forcierte sie diese etwas. Die Zartheit des Liedes wurde von ihr vollständig erdrückt. »Ich danke«, sagte Professor Lange, der sich Notizen machte, als sie geendet hatte. »Wir sprechen morgen in der Stunde darüber. Fräulein Hartenstein, bitte, singen Sie uns dasselbe.«
Fräulein Neudorf, die zu Brahms übergehen wollte, mußte abtreten. Ursel Hartenstein stieg mit der ihr eigenen Unbefangenheit auf das Podium.
»Sah ein Knab' ein Röslein stehn...« zart, schlicht und innig klang die Weise. Lange nicht so voll wie Fräulein Neudorfs Stimme. Aber von einem so süßen Schmelz, daß jeder den Duft des Heiderösleins zu spüren glaubte. Stille herrschte, als Ursel geendet hatte. Ein jeder fühlte sich ergriffen. Professor Lange hatte vergessen, sich Notizen zu machen. »Ich danke, Fräulein Hartenstein«, sagte der Professor und nickte Ursel freundlich zu. »Bitte, Fräulein Binder.«
Fräulein Binder hatte sich für die Azuzenaarie aus dem »Troubadour« entschlossen. »Lodernde Flammen« schlugen über den Zuhörern zusammen, die Altistin sang vor Aufregung etwas unrein. Professor Lange machte häufig Anmerkungen in seinem Büchlein.
»Fräulein Hartenstein, bitte wollen Sie uns noch einmal das Ständchen bringen.« Fräulein Neudorf, die erwartet hatte, daß die Reihe nun wieder an sie kam, warf der auf Professor Langes Wunsch vortretenden jüngeren Mitschülerin einen wütenden Blick zu. So ein Grasaffe!
»Guten Abend, mein Schatz, guten Abend, mein Kind-« Mutwillig, übermütig und neckend erklang es. Ursels Naturell kam darin zwanglos zum Ausdruck.
Als sie geendet hatte, trat Professor Bock, der bisher stiller Zuhörer gewesen war, zu seinem Kollegen und sprach leise mit ihm. Professor Lange nickte zustimmend.
»Was wollen Sie noch singen, Fräulein Hartenstein?«
»Was Sie wünschen, Herr Professor.«
»So singen Sie das Straußsche Wiegenlied, zwei Schubertlieder und vielleicht noch 'Ich liebe dich, so wie du mich', von Beethoven, das wir erst kürzlich studiert haben.« »Ich werde zuerst das Wiegenlied singen«, wandte sich Ursel an den Pianisten, der begleitete.
»Für heute genug, Fräulein Hartenstein.« Professor Lange winkte ab. »Ich meinte zum Meisterkonzert am neunzehnten. Bis dahin müssen wir die Sachen noch fleißig durcharbeiten. Denn daß Fräulein Hartenstein am geeignetsten ist, in dem Konzert zu singen, steht wohl außer Zweifel.«
Gedämpftes Gemurmel erhob sich im Saal. Fräulein Neudorf war geradezu erschlagen. Mit glänzenden Augen wandte sich Ursel an ihren alten Lehrer. »Ich soll singen, Herr Professor? Wirklich ich? Oh, ich will so schön singen, grenzenlose Mühe will ich mir geben. Ich werde Ihnen ganz gewiß keine Schande machen«, versprach Ursel in ihrem Übermaß von Seligkeit.
Die beiden Herren lächelten über die naive Freude des jungen Mädchens. »Singen Sie nur so, wie Sie heute gesungen haben, Fräulein Hartenstein. Schlicht und natürlich, dabei kommt Ihre Stimme am meisten zur Geltung. So, Kollege, wenn Sie in Ihrer Chorstunde fortfahren wollen - ich bin fertig.« Professor Lange empfahl sich, und der Taktstock Professor Bocks durchsauste aufs neue die Luft.
Wer hatte jetzt noch Aufmerksamkeit für die Matthäuspassion. Professor Bock mußte soundso oft abklopfen, er war heute recht unzufrieden mit seinem Chor. Die Solisten, wenigstens die weiblichen, klangen matt. Fräulein Neudorfs Stimme wutheiser. Ursels Stimme jubilierte heute wie eine Lerche. Man hörte sie aus all den Stimmen heraus. Gab es einen glücklicheren Menschen auf Erden als sie? Im Konzert - in einem richtigen Konzert vor fremdem Publikum sollte sie auftreten - da war er, der Weg zum Ruhm, lorbeerumsäumt. Wenn es auch noch kein eigenes Konzert war, es war doch der erste Schritt in die Öffentlichkeit. Und im neuen Jahr würde sie in die Opernabteilung eintreten, sicher würde man sie dort aufnehmen, wenn man sie für das Konzert gewählt hatte. Dann ging es aufwärts - Sprosse für Sprosse, hinauf auf der Leiter zum Ruhm. O Gott, was würden die Eltern bloß sagen. Nun mußte Vater einsehen, daß sie an der Bank nicht am richtigen Platz gewesen war, daß sie zur Sängerin auserkoren war. Und Muzi, ihre kleine Muzi. Wie würde sie sich mit ihr freuen! Gleich nach der Hochschule mußte sie zur Großmutter hinlaufen, denn Milton - Milton mußte es zuerst erfahren, ihr unsagbares Glück. Das großelterliche Haus in der Knesebeckstraße lag verschlafen in weichen
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