Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
mögen. Ein Mensch wie er konnte nicht so schnell vergessen.
»Jetta« - aus dem Garten klang die Stimme der Großmama zur offenen Balkontür herein. Marietta legte Anitas Brief zurück und trat auf den mit winzigen Pflänzchen besteckten Balkon hinaus. Drunten stand die Großmama frisch und leuchtend wie der Ostersonntag. In der Hand hielt sie soeben gepflückte Blauveilchen.
»Hier, mein Herz, einen duftenden Gruß zu Anitas Ehrentag. Aber du mußt dir die Veilchen heraufholen. Mein Knie streikt heute wieder mal. Nützt ihm aber alles nichts. Unser Osterspaziergang wird doch gemacht. Leg die Bücher zusammen, Jetta, und komm herunter. Du siehst so bleich aus, und es ist solch ein herrlicher Frühlingstag.« So war die Großmama. Sie wußte, daß Marietta heute nicht sich selbst und ihren Gedanken überlassen werden durfte.
Und wirklich, als sie dann Arm in Arm mit der Großmama durch die bunte Lenzpracht des Gartens schritt, sich an jeder neu erblühten Hyazinthe, an jedem zart sprießenden Strauch erfreute, da fiel alles Schwere von ihr ab. Wie wohl die warme Sonne nach langem Winter tat. Wie munter es schon in der alten Linde zirpte und flötete. Und hatte der verschlafene Lindenbaum doch kaum die Blattaugen aufgeschlagen. Leise, ganz leise tat es das junge Menschenkind den gefiederten Gästen da oben nach, glockenrein klang's: »Wenn ich ein Vöglein wär'.« Immer heller, immer jubelnder schwoll die junge Stimme an. Und als Marietta geendet hatte, da zog die Großmama sie impulsiv in die Arme und küßte sie. »Seelchen, als ob ich deine Mutter höre. Deine Stimme bekommt immer mehr Ähnlichkeit mit der meiner Ursel.« Von den Rosenbäumchen, an denen der alte Geheimrat mit der Gartenschere Operationen vornahm, aber klang's anerkennend herüber: »Brav, Mariele. Zum Glück hast du dir keinen Kunstfimmel in den Kopf gesetzt. Dann schon lieber die Frauenschule.« Und dann sprachen sie zusammen darüber, ob wohl ihr Telegramm pünktlich zur Hochzeit eingetroffen sei, und wie schön Anita als Braut ausschauen mußte. Und der Großpapa warf ein, daß der Junge, der Horst, sicher die längste Zeit drüben gewesen sei. Den schnappte die Neue Welt da drüben ganz sicher Deutschland nicht fort. Und da war's als ob die Blumenglöckchen alle hörbar läuteten und die Ostersonne die ganze Welt in Gold einspann. War das wirklich noch keine halbe Stunde her, daß Marietta droben in ihrem Zimmer gesessen und Trübsal geblasen hatte?
Nein, Marietta fand heute keine Zeit mehr, unfrohen Gedanken nachzuhängen. Da war erst der Osterspaziergang, der alljährliche, der wie stets zur blauen Havel führte. Auch Lottchen wurde mitgenommen. Das Kind war heute glückselig. Hatte doch die Tante Geheimrat ihre kleine Kusine Lenchen nachmittags zum Ostereiersuchen eingeladen. Und die Großmuttel und die Tante waren auch mitgeladen, und zwar von Mutter Trudchen, die mit den Angehörigen ihres Pflegekindes bereits Freundschaft geschlossen hatte. Durch die Zuneigung zu Lottchen hatten die braven Menschen zueinander gefunden. Die Nadelbäume des Grunewalds strömten einen würzigen Geruch in die noch etwas herbe Frühlingsluft aus. Die große Autostraße nach Wannsee entlang surrten die Omnibusse. Dahinter aber, hinter dichtem Kiefervorhang, hatte der Frühling seine Werkstatt aufgeschlagen. Da hatte er den schon etwas schadhaften Moosteppich mit frischgrünen Flicken versehen. Mit Waldstiefmütterchen, Aurikeln und blauem Gundermann hatte er ein lustiges Blumenmuster hineingestickt. Die junge Birkenallee, die man entlang wanderte, trug stolz ihr funkelnagelneues, lichtgrünes Osterwams. Und jetzt trug der Frühlingswind leisen Glockenklang über die Baumwipfel herüber. So leise und zart, daß des Geheimrats alte Ohren es gar nicht vernahmen. Aber die Großmama hatte noch junge Ohren, die hörte noch das Gras wachsen, wie der Großpapa meinte. Ja, das waren die Glocken des schlichten Waldkirchleins, wo man unter Gottes freiem Himmel den Schöpfer pries. An braunen Holzbauten mitten im Walde führte der Weg vorbei. »Ach, das sind ja die Waldschulen!« rief Marietta erfreut. »Lotte, hier wird deine Kusine Lenchen nach Ostern ihre Abc-Künste probieren. Auf meine Fürsprache hin ist Lenchen in die Waldschule aufgenommen worden. Das blasse Dingelchen durfte nicht in eine überfüllte Schulklasse hineingepfercht werden.« »Ich wünschte, ich könnte hier auch in die Schule gehen.«
»Du hast das wirklich nicht nötig, Lottchen. Du hast
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