Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Und das Schwesterle ...« Da verstummte die alte Frau plötzlich. Als ob sie eine Vision sähe, starrte sie auf das fremde Mädchen. Sie rieb sich die Augen, aber die Erscheinung blieb. Kamen alte, längst vergangene Zeiten wieder? Gerade so hatte sie ausgesehen, ihr Lottel, damals vor vielen Jahren, als sie konfirmiert wurde. »Ist Ihnen etwas, liebe Frau Liebig?« erkundigte sich Frau Geheimrat Hartenstein, welche die alte Frau mit schwer verhaltener Erregung betrachtete.
»Nu nee, halt nur eine Ähnlichkeit. Ihr kleines Enkeltöchterle da ist halt meinem Lottel, meiner Ältesten, wie aus dem Gesicht geschnitten. Entschuldigen Se nur, liebe Dame, aber manchmal übermannt einen die Sehnsucht nach seinem Kind in der Ferne.« »Das will ich Ihnen glauben, liebe Frau Liebig, geht es mir doch gerade so. Ich habe auch eine Tochter nach Brasilien fortgegeben ...«
»Aber sie läßt halt von sich heeren, es gäht ihr gutt? Ja, dann dirfen Se nicht klagen, liebe Dame, dann wollt' ich Gott danken und zufrieden sein. Wenn man nur wißt, wenn man nur wißt, ob se ieberhaupt noch am Leben ist.«
»Vielleicht kann Ihnen meine Enkelin darüber nähere Auskunft geben. Sie ist vor sechs Jahren von Sao Paulo nach Europa herübergekommen. Es wäre ja möglich, daß sie dort etwas von Ihrer Tochter gehört hätte.« Aufmunternd nickte Frau Annemarie der bis in die Lippen erblaßten Marietta zu. So schnell wie möglich wollte sie der alten, braven Frau Gewißheit geben.
Marietta, die sich bisher mit Lenchen beschäftigt hatte, um ihre Aufregung zu verbergen, verkrampfte die Hände ineinander. Sie mußte sich zusammennehmen. »Ich habe auf einer Plantage eine Deutsche, eine Frau Müller aus Westfalen kennengelernt.« Es klang tonlos. Sie kam nicht weiter, denn die alte Frau Liebig hatte ungestüm ihre Hände ergriffen.
»Erzählen Se ooch, nu, erzählen Se, ob es ihr guttging. Das war mein Lottel, das muß mein Lottel gewäsen sein.«
»Nu, laß auch das Fräulein erst auserzählen, Muttel«, beschwichtigte Frau Neumann die zitternde, alte Frau, obwohl auch sie erregt lauschte. Aber ehe Marietta noch ihr laut pochendes Herz wieder so weit in der Gewalt hatte, um weitersprechen zu können, kam etwas Unvorhergesehenes. Ein Jubellaut klang aus der Ecke, wo die Anrichte mit den Familienbildern stand. Lottchen hatte eins der Bilder heruntergerissen und an ihr Herz gepreßt. »Muttel, liebe Muttel! Wie kommt denn meine Muttel hierher?« Die Tränen stürzten dem Kind aus den Augen. Stille trat ein. Keiner sprach, wo das Schicksal gesprochen hatte. Frau Annemarie streichelte, selbst Tränen in den Augen, beruhigend die alte, verarbeitete Frauenhand. »Meine Enkelin Marietta bringt Ihnen die letzten Grüße Ihrer dort verstorbenen Tochter, liebe Frau Liebig.«
Die alte Frau schlug die Hände vors Gesicht. »Ich hab's ja gewußt, es war ja nicht andersch meeglich, als sie gar nischt mehr von sich heeren ließ, mein Lottel, aber ...« Der Schmerz der Mutter übermannte sie.
Da schob sich eine heiße Kinderhand zwischen ihre von Tränen überrieselten Finger. Es hatte nicht erst Mariettas liebevoller Aufklärung bedurft, Lottchen hatte begriffen. »Bist du die Großmuttel aus dem Westfalenland, die ich von meiner Muttel grüßen soll?« fragte sie zutraulich.
Die Finger sanken herab. Aus tränenverschleierten Augen sah die alte Frau wieder ihre kleine Lotte von früher vor sich. Fest zog sie das Vermächtnis der teuren Verstorbenen an ihr Herz.
Inzwischen hatte Marietta Lottes Tante, Frau Neumann, die nötigen Aufklärungen gegeben. Sie hatte ihr von dem letzten Schmerzenslager ihrer Schwester berichtet, wie ihre letzten Worte den Lieben in der fernen Heimat gegolten hatten. Daß sie der Sterbenden das Wort gegeben hatte, für ihr Kind zu sorgen und es zu seinen Verwandten zurückzuschicken. Wie man Jahr für Jahr ohne Erfolg gesucht und geforscht und wie nun ein Zufall das Geheimnis gelüftet habe.
»Kein Zufall, liebes Fräulein, Ihre Menschenliebe, mit der Sie sich unserer Lotte ebenso wie meines Lenchens angenommen haben, hat uns zusammengeführt. Wie sollen wir Ihnen für alles danken, was sie an uns getan haben!«
»Indem Sie Lotte in unserem Haus bei ihren Pflegeeltern, dem braven Kunzeschen Ehepaar, das Lottchen wie ein eigenes Kind liebt, lassen, Frau Neumann. Daß sie trotzdem gern zu Ihnen kommen wird, das sehen Sie ja.« Marietta wies auf Lotte, die abwechselnd der Großmutter runzelige Wange in stummem Glück streichelte
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