Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Großmamas Osterhase aber auch für schöne Ostereier vorbereitet, ganz persönlich für jeden ausgedacht. Da fand Backfisch Lili, die sich gern davor drückte, sich selbst ein abgerissenes Band oder einen Knopf anzunähen, ein allerliebstes Nähkastenei zwischen den Stachelbeersträuchern. Sogar gedichtet hatte die Großmama. Ein Zettel lag dabei mit dem Verschen:
» Reißt dir, Lilli, was entzwei,
Ganzgemacht mit diesem Ei. «
Edchen, der sich besonders gern mit allerlei Getier abgab, holte sich aus dem Hühnerstall den sehnlichst gewünschten Laubfrosch. An der kleinen, zu dem Glasbassin hinabführenden Leiter stand zu lesen:
» Steigt der Frosch die Leiter rauf,
Regnet's und hört wieder auf. «
Großmamas Verslein wurden beinahe ebenso jubelnd begrüßt wie das Geschenk selbst. Für Lenchen wuchsen unter der Fliederhecke Frühstücksbüchse und Zensurenmappe. Lotte fand hinter dem Komposthaufen ein paar braune Sonntagsschuhe. Gerda, die als junges Mädchen für Frau Annemaries Schönheitssinn nicht genug Wert auf ihr Äußeres legte, pflückte sich, wie im Schlaraffenland, vom Baum ein allerliebstes Sommerkleid. » Hast du anderes auch im Schädel,
Nett aussehen muß jedes Mädel! «
hatte die Großmama als Motto dazugeschrieben. Ihrem Liebling aber hatte sie einen weichen, weißen Wollschal gehäkelt, für kühle Abende im Garten.
» Tropenkind, jetzt nicht mehr friere,
Nur mein Osterei probiere. «
So hatte Frau Annemarie für jeden gesorgt und gedacht. Selbst Lottchens neue Verwandte erhielten allerlei nützliche Ostereier. Aber der Osterhase kam auch zu ihr. Das gab die größte Freude, als nun die Großmama auf die Suche gehen mußte. Es lohnte sich, wenn die alte Dame auch lachend versicherte, ihr Knie wolle nun aber wirklich nicht mehr mit. Der Osterhase war ganz besonders fleißig für die Großmama gewesen. Er hatte Tablettdeckchen gestickt und Kaffeewärmer gestrickt. Mit dem Laubsägekasten hatte er sogar einen Kasten für die brasilianischen Briefe geschreinert.
Und dann kam das allgemeine Ostereiersuchen der Schokoladen- und Marzipaneier. Was gab das für ein Juchhei in dem vor kurzem noch winterstillen Garten.
Ferienkinder
Berlin wurde leer. Wer es nur einigermaßen ermöglichen konnte, nahm Reißaus vor der Julihitze und dem glühenden Staub, der Straßen und Plätze einhüllte. Ans Meer oder in die Berge, aufs Land, irgendwohin, wo grüne Wiesen und rauschende Wälder ihren würzigen Atem ausströmten. Die großen Schulferien hatten bereits begonnen. Autos, mit Koffern und Kisten bepackt, ratterten durch die Straßen zu den Bahnhöfen. Geheimrats hatten ihre alljährliche Badereise nach Kissingen noch nicht angetreten. Eigentlich hatten sie gar keine Erholung nötig. Konnte es irgendwo schöner sein als in ihrem Rosengarten, in ihrem Rosenhaus? Marietta mußte aber unbedingt in andere Luft, am besten war Hochgebirge oder Nordsee. Aber leider war beides unmöglich. An die See sollte die Großmama ihres Rheumas wegen nicht, ins Hochgebirge nicht der Großvater wegen seines Herzens. Also Kissingen wie immer. Man wartete nur noch darauf, daß Marietta endlich Ferien machte. Heute schloß die Frauenschule. Die praktische Arbeit der meisten Schülerinnen ging damit ebenfalls zu Ende, so daß der größte Teil von ihnen seinen Urlaub antreten konnte. Marietta Tavares war noch bis zum fünfzehnten Juli in der Erholungsstätte des Roten Kreuzes draußen im Grunewald verpflichtet. Dann winkte auch ihr die Erholung.
Fräulein Dr. Engelhart hatte ihre Schülerinnen mit den besten Wünschen entlassen. »Fräulein Tavares, kann ich Sie noch einen Augenblick sprechen?« Marietta, schon im Begriff, aus der Tür zu gehen, machte sofort kehrt.
»Hören Sie, Fräulein Tavares, wir sind da in einer peinlichen Verlegenheit. Die Ferienkolonien hatten vom fünfzehnten Juli bis zum ersten September drei Jugendleiterinnen von uns angefordert. Die Arbeit ist verantwortungsvoll, wir nehmen meist dazu Schülerinnen des zweiten Jahrgangs. Nun bekommen wir gestern die Nachricht, daß Fräulein Matthes, die einen Ferienzug leiten sollte, sich plötzlich einer Blinddarmoperation hat unterziehen müssen. Natürlich ist nicht daran zu denken, daß sie am Fünfzehnten schon soweit ist. Ich habe sofort an Sie gedacht. Sie sind die einzige, liebes Fräulein Tavares, der ich von den Jüngeren jetzt schon diesen verantwortungsvollen Posten anvertrauen könnte. Sicher komme ich Ihnen damit zwischen Ihre
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