Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
basta!« Die Fensterscheibe kam in Gefahr, so energisch fuhr Frau Trudchen darüber.
»Frau Trudchen - diesmal ist es Ernst.« Der alten Dame tat die treue gute Frau in der Seele weh, aber sie mußte ihr den Schmerz zufügen. »Fräulein Marietta hat zufällig die Großmutter und Tante von unserem Lottchen entdeckt. Sie ist von der Aufregung krank geworden.«
»Da hätt' unser Fräulein Marietta auch etwas Jescheiteres tun können. Jewiß so'ne noblichte Leute, daß unser Lottchen uns nachher jar nicht mehr wird kennen wollen und ...« Die brave Frau konnte nicht weitersprechen. Sie griff nach dem Lederlappen, um die hervorstürzenden Tränen zurückzuhalten. Liebevoll half ihr Frau Geheimrat von der hohen Leiter herab und redete ihr dabei tröstend zu. »Nein, ganz einfache, bescheidene, aber brave Leute sind es, Frau Trudchen, die sich sehr quälen müssen, um durchzukommen. Die Kleine ist bei Fräulein Marietta im Kinderhort und ...« »Denn jeben wa unser Lotteken erst recht nich her. Wenn se da etwa noch Hungerpoten saugen muß, das arme Ding! Dazu hat Frau Jeheimrat se doch nich auf de hohe Schule jeschickt und Bildung lernen lassen. Nee - nee - und was mein Kunze is, der jibt sein Lotteken erst recht nich raus.«
»Nun, Frau Trudchen, am Ende laßt sich das einrichten, daß Lottchen ruhig bei Ihnen im Hause bleibt. Ich würde es für das Vernünftigste halten. Denn den Verwandten wird nichts daran liegen, noch für eins mehr sorgen zu müssen. Trotzdem dürfen wir dem Kind seine einzigen Verwandten nicht vorenthalten. Lottchen darf vorläufig noch nichts davon erfahren. Sie wird ihre Liebe zwischen Mutter und Vater Kunze und den neuen Angehörigen teilen.« So sprach Frau Annemarie gütig und klug.
Ihre Worte verfehlten nicht ihren Eindruck. Frau Trudchen stieg die Leiter hinauf und nahm die unterbrochene Arbeit wieder auf, als ob nichts geschehen sei. Sie sagte nur noch: »Jotte doch, wenn das so ist, denn jönn' ich dem Lotteken ihre Jroßmutter und Tante.« Dann hörte man nur noch das Fensterleder quietschen. Marietta hatte heute ihren freien Nachmittag. Man war übereingekommen, den folgenschweren Besuch bei Lottes Verwandten nicht länger aufzuschieben. Aber allein setzte Frau Annemarie Marietta nicht noch einmal den gewiß nicht ausbleibenden Aufregungen aus. »Nachher wirst du mir wieder bewußtlos ins Haus gebracht.« Nein, die Großmama ging selber mit. Das bedeutete für Marietta eine große Erleichterung.
Auch die nichtsahnende Lotte strahlte, daß sie das kleine Lenchen besuchen durfte. Spielsachen und Märchenbücher suchte sie für das kranke Kind zusammen. Wieder stieg Marietta die vier Treppen in dem ihr schon bekannten Hinterhaus hoch. Es war ihr, als ob sie Gewichte an den Füßen hätte. Da stieg die Großmama mit ihrem steifen Bein ja beinahe noch elastischer hinauf. Lotte schnüffelte neugierig überall an den Schildern herum.
»Ach Gott, das arme Lenchen, wie häßlich es hier in dem dunklen Hause wohnt«, meinte sie mitleidig, dieses mit ihrem schönen Daheim bei Geheimrats im Rosenhaus vergleichend. Die Großmama und Marietta sahen sich vielsagend an.
»Lenchen hat hier ein liebes Mütterchen und eine Großmutter, die es liebhaben. Da sieht es gewiß gar nicht, daß das Haus häßlich ist«, erwiderte die Tante Geheimrat.
»Ich wünschte, ich könnte auch in einem häßlichen Hause wohnen!«
Wieder sahen sich die beiden Damen an. Alle Kindessehnsucht lag in Lottes Worten.
Diesmal brauchte Marietta nicht so lange nach dem Klingeln zu warten. Frau Neumann öffnete, wohl ein wenig erstaunt über den zahlreichen Besuch, aber trotzdem erfreut.
»Ach, liebes Fräulein, wenn Sie wüßten, wie unser Lenchen an Ihnen hängt. Es vergeht kein Tag, daß sie nicht von ihrer Tante Jetta spricht. Und nun bemüht sich die Frau Großmama auch noch die vielen Treppen herauf. Und das Schwesterchen kenne ich ja schon von Weihnachten her.« Sie reichte Lotte, die sie für Mariettas jüngere Schwester hielt, die Hand.
Auch drinnen wurde der Besuch freudestrahlend empfangen. Lenchen lag noch immer, sie streckte der Tante Jetta beide Arme entgegen. Die alte Frau Liebig bat um Entschuldigung, daß es gerade so unordentlich aussah, und war bemüht, den Stoff, an dem sie und ihre Tochter arbeiteten, zur Seite zu räumen.
»Ach, du mein, haben mer denn ieberhaupt Stiehle genug für die Herrschaften? So, die Frau Großmuttel setzt sich aufs Kanapee zu unserem Lenel. Und die Tante Jetta halt danäben.
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