Nestor Burma in der Klemme
jüngsten
Aufträgen. Ziemlich banal, das Ganze. Nichts Sensationelles. Alltägliche Fälle
ohne jede Besonderheit. Meine Sekretärin stellte die Aktenordner zurück ins
Regal und gab mir zu verstehen, daß sie ganz Ohr war.
Ich erzählte ihr haarklein, was ich erlebt
hatte. Sie hörte mir aufmerksam zu. Unterbrach mich nicht, zeigte keinerlei
Überraschung. Wir arbeiteten schon seit langem zusammen. Nur einmal hatte ich
sie wirklich überrascht gesehen: Als wir zehn Tage Urlaub in Barbizon gemacht
hatten und niemand in meinen Armen gestorben war. Hélène war ernsthaft besorgt
gewesen, daß mich der Liebe Gott verlassen haben könnte.
Als mein Bericht zu Ende war, drückte sie
mehrmals ihren Zeigefinger auf die polierte Schreibtischplatte, so als wär’s
ein Stempelkissen des Erkennungsdienstes. Schließlich fragte sie nachdenklich:
„Glauben Sie an die Rachethese?“
„Ja und nein.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich meine, daß es sich um einen Racheakt
handelt, aber nicht um den, an den die Polizei glaubt. Sehen Sie, Thévenon war
ein Einzelgänger, hat nie mit anderen zusammengearbeitet, auch kein blutiges
Ding gedreht. Nur dieses eine unglückselige Mal. Man könnte sich nun fragen,
was ihn dazu veranlaßt hat, aber das heben wir uns für später auf. Jedenfalls
ist er nicht der Typ, der Erben hinterläßt, die ihn rächen und Barton für den
Verrat bezahlen lassen. Seine Mannschaft bestand aus Vallier, Dargy, Gonin und
Barton. Der erste wurde hingerichtet, der zweite ist im Bagno. Bleibt noch
Gonin, dessen Name nur durch Bartons Enthüllungen bekannt ist. Er ist jedoch
seit seiner Flucht nicht wieder aufgetaucht. Der ist doch nicht bekloppt und
lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, nur um Bartons Plauderei zu rächen! Zumal
ihn das nicht daran gehindert hat, sich aufs Altenteil zurückzuziehen.“
„Dann wäre Thévenon der einzige, der einen
ausreichenden Grund gehabt hätte, Barton ans Leder zu wollen.“
„Ja, und der ist tot. Gespenster sind im
allgemeinen dafür bekannt, Bettlaken und Ketten mit sich rumzuschleppen. Von
Revolvern hab ich in dem Zusammenhang noch nie was gehört. Geister geben
Klopfzeichen, veranstalten aber keine Schießübungen.“
„Nein, davon ist nichts bekannt“, stimmte mir
Hélène zu.
„Wenn Thévenon also nicht als Rächer in Frage
kommt“, fuhr ich in meinen Überlegungen fort, „dann könnte man an jemand
denken, der ihm nahestand. Jemand, der ihn geliebt hat, der nie über seinen Tod
hinweggekommen ist. Das wäre ein hervorragendes Tatmotiv.“
„Die geheimnisvolle Frau aus dem Taxi?“
„Genau die! Sie muß den Gangster wahnsinnig
geliebt haben. Schließlich wußte sie, wer Thévenon war, und hat sich trotzdem
auf diese... äh... Spritztour eingelassen. Hélène, mein Schatz! Sie sind doch
eine Frau und können sich besser in diese Rolle hinein versetzen. Was halten
Sie davon?“
Meine Sekretärin sah mich mit ihren grauen Augen
an. Die Taxigeschichte hatte sie offensichtlich sehr beeindruckt.
„Ja“, sagte sie, „um so etwas mitzumachen, müßte
ich einen Mann schon furchtbar lieben... oder sehr viel Mitleid mit ihm haben!“
Ich schnippte mit den Fingern.
„Das ist es: Mitleid, nichts als Mitleid! Damit
widerlegen Sie das letzte Argument für die Rachethese. Als die Frau
verschleiert zum letzten Rendevous kam und ins Taxi stieg, liebte sie Thévenon
nicht mehr. Sie hatte nur noch Mitleid mit ihm. Und drei Jahre später denkt sie
nicht im Traum daran, ihren ehemaligen Geliebten zu rächen. Es geht also um was
anderes. Sie wissen nicht zufällig, um was?“
Hélène zögerte eine Weile, bevor sie tippte:
„Das Gold?“
„Ja, das Gold.“
„Hat denn Thévenon tatsächlich die Barren
mitgenommen? Dafür gibt’s keine Beweise. Die Theorie mit dem nächtlichen
Spaziergänger ist zumindest ebenso plausibel.“
„Der diebische Spaziergänger gehört zusammen mit
dem angeblichen Racheakt ins Reich der Phantasie. Thévenon hat sich die Barren
geschnappt und sie versteckt, um wenigstens die Spesen rauszukriegen. Davon bin
ich überzeugt. Und darum mußte Barton sterben, darum hat ein junges Mädchen
Angst, darum kommen einige Leute so richtig in die Gänge, zum Beispiel der
,Fliehende’, der Boxer und I.D.U.S. Fragen Sie mich bitte nicht, welchen Platz
jeder einzelne bei dem Drama einnimmt. Das weiß ich nicht so genau. Es gibt
noch viele Geheimnisse, aber...“
„Sind Sie nicht der Mann, der das Geheimnis k.o.
schlägt?“
„In diesem Fall
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