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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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wahrscheinlich die Zeit damit verkürzte, sich Geschichten über ihre Kunden
auszudenken.
    Sallie setzte sich auf einen Schemel,
der neben meinem stand, und langte nach dem Kofferradio auf dem Ladentisch. Sie
stellte es an, lauschte, notierte sich etwas auf einem Stück Papier, und dann
drehte sie es wieder leise.
    »Ich versuche, den Wettbewerb zu
gewinnen«, erzählte sie mir. »Man schreibt alle Songs auf, die sie gespielt
haben, und wenn sie es ansagen, ruft man im Sender an. Wenn man durchkommt und
ihnen die richtigen Titel in der richtigen Reihenfolge nennt, gewinnt man
hundert Dollar.«
    Es war eines der vielen Hörerspiele,
die KSUN ausstrahlte. »Hören Sie diesem Sender oft zu?«
    »Die ganze Zeit. Die Musik ist ja nicht
sehr gut, aber die Discjockeys sind schon Spitze.«
    »Ich habe deshalb gefragt, weil mein
Freund da arbeitet. Don Del Boccio.«
    Sallies fleischiges Gesicht strahlte
auf. »Der alte Don? Der ist Ihr Freund?«
    »Ja.«
    »Dem hör’ ich immer zu. Hat einen
tollen Sinn für Humor.«
    Stolz durchfuhr mich. »Er ist wirklich
gut, was?«
    »Ich liebe ihn. Viele Leute in der
Gegend tun das. KSUN ist im Tenderloin wirklich beliebt, aus irgendeinem Grund.
Vielleicht wegen all der Gewinnspiele, die sie machen.«
    Jetzt, da sie es erwähnte, fiel mir
ein, daß ich die unverkennbaren Töne von KSUN aus vielen Wohnungen plärren
gehört hatte. Ich mußte Don von diesem Phänomen erzählen. Zu Sallie sagte ich
bloß: »Ich werde Don ausrichten, daß Sie ihn mögen; das wird ihn freuen. Aber
zurück zu den Problemen im Hotel — was glauben Sie, wer hinter diesen Streichen
gesteckt haben könnte?«
    Sie langte nach einer Vase mit
Veilchen. »Die Jungs natürlich.«
    »Sie meinen Hoa und Duc und die anderen
im Hotel?«
    Sie nickte, wählte ein paar Veilchen
und Blätter aus.
    »Sind die nicht ein bißchen zu alt, um
noch Jungs genannt zu werden?«
    »Ja und nein.« Sallie arrangierte die
Blumen vor den Blättern und band dann die Stengel geschickt mit Draht zusammen.
»Dem Alter nach sind sie Männer. Den Erfahrungen nach — Erfahrungen gewisser
Art wie Krieg und so — sind sie weit über ihr Alter hinaus reif. Aber diese
Jungs haben keine Kindheit gehabt. Jetzt, wo sie in diesem Land sicher sind,
holen sie die nach.«
    »Ich habe Hoa nicht kennengelernt, und
ich hatte keine Gelegenheit, mit den anderen zu reden, aber Duc kommt mir vor
wie ein sehr zorniger junger Mann.«
    »Das gehört zu seiner Kindheit. Er
fühlt sich hier fehl am Platz, und deshalb rebelliert er und weigert sich, sich
einzufügen.« Sallie wickelte ein Stück weißes Band von einer Rolle und fing an,
es zu einer Schleife zu binden.
    »Er stellt es auf eine kulturelle
Basis«, erklärte ich. »Sagt, er wolle seine vietnamesische Identität nicht
verlieren.«
    Sie nickte. »Klar sagt er das. Es ist
eine Entschuldigung für die Tatsache, daß er sich weigert, erwachsen zu werden
und sein Leben selbst zu gestalten. Er kann seinen Weg in diesem Land gehen,
ohne den Kontakt zu seinem Erbe zu verlieren — und im Grunde weiß er das auch.«
    »War Hoa genauso?«
    »Ja, Hoa und die anderen. Sie haben
sich miteinander verbündet und sich miteinander ausgeweint.«
    »Was haben sie sonst noch getan, wenn
sie sich nicht gerade in Selbstmitleid ergingen?«
    »Nicht viel. Ich habe sie oft gesehen,
wenn sie im Treppenhaus herumsaßen, mit langen Gesichtern, und geraucht und
geredet haben.«
    »Geraucht...?«
    »Tabak, kein Marihuana. Auch wenn sie
nicht erwachsen werden wollen, so sind sie doch keine schlechten Jungs. Sie
sind verwirrt, das ist alles. Verwirrt, wie wir es alle waren.«
    »Dann haben Sie also gedacht, sie
würden ihnen die Streiche spielen, weil sie sich gelangweilt haben und nicht
wußten, was sie tun sollten?«
    »Ja. Wissen Sie, Jungs sind nun einmal
Jungs, ganz gleich, in welchem Land sie geboren wurden.«
    »Aber jetzt glauben Sie nicht mehr, daß
sie es waren, die die Probleme verursacht haben.«
    »Nein.« Sallie war mit ihrem
Anstecksträußchen fertig und hielt es mir hin, damit ich es bewundern konnte,
aber ihre Augen blickten traurig. »Nein, das tue ich nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Das ist doch wohl offensichtlich,
oder? Es sind gute Jungs. Sie würden ihren Freund nicht umbringen.«
    »Wenn sie nun aber in schlechte
Gesellschaft geraten sind — «
    Eine große, klassisch schöne Frau in
einer hellen Pelzjacke suchte sich einen Strauß weißer Orchideen aus. Sallie
wickelte sie ein, nahm das Geld entgegen, und die

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