Nette Nachbarn
sie: »Da war nichts, als die Polizisten endlich
gegangen sind. Wenn diese Tüte da gewesen wäre, dann hätte ich sie gesehen.«
Ich beobachtete sie einen Augenblick
lang. Dann sagte ich: »Danke« und ging auf den Fahrstuhl zu. Hinter mir hörte
ich ihre Wohnungstür zufallen.
Ich war nicht sicher, ob Mary mir die
Wahrheit gesagt hatte, aber ich hätte wetten mögen, daß sie etwas über das
Laken wußte.
ZEHNTES
KAPITEL
Es war still auf dem Flur vor der
Wohnung der Vangs. Kein Baby weinte, kein Radio oder Fernseher lief. Ich sah
auf meine Uhr und stellte fest, daß es kurz vor Mittag war; wahrscheinlich
arbeitete die ganze Familie im Restaurant.
Trotzdem klopfte ich und wartete. Die
Tür wurde geöffnet, und Duc Vang stand vor mir. Sein Gesicht unter dem
merkwürdigen Bürstenhaarschnitt war spitz und wirkte älter als am Tag zuvor.
Mir fiel auf, daß seine Kleider — ausgebeulte blaue Hose und ein loses Hemd — denjenigen
des Händlers Hung Tran ähnelten und nicht der Kleidung der anderen jungen
Vietnamesen, die ich auf den Straßen gesehen hatte. Bei seiner Kleidung wie
auch bei seinem Namen schien Duc die alte, vietnamesische Tradition
vorzuziehen.
»Außer mir ist niemand da«, erklärte
er. »Sie sind alle im Restaurant.«
»Das trifft sich gut, denn ich wollte
ohnehin mit dir sprechen.«
Er nickte höflich, zeigte keinerlei
Überraschung und schob mich hinein, bedeutete mir, auf dem Sofa Platz zu
nehmen. Dann hockte er sich auf die Lehne am anderen Ende und wartete darauf,
daß ich anfing zu sprechen.
»Duc«, begann ich, »die Sache mit
deinem Freund Hoa Dinh tut mir sehr leid.«
Er neigte leicht den Kopf.
»Die Polizei«, fuhr ich fort, »tut alles,
was sie kann, um seinen Mörder zu finden. Und da ich hier bin, um
herauszufinden, wer die Unruhe hier im Haus stiftet, kann ich versuchen, ihnen
zu helfen.«
»Glauben Sie, es handelt sich um ein
und dieselbe Person?«
»Möglich.«
»Ja.«
»Was kannst du mir über deinen Freund
erzählen, Duc?«
»Ich verstehe nicht.«
»Du und Hoa, ihr wart doch gute
Freunde, oder nicht? Die besten Freunde?«
Er zögerte. »Ja.«
»Wie lange hast du Hoa gekannt?«
»Seit einem Jahr, als wir in dieses
Haus gezogen sind.«
»Er war ein ganzes Stück jünger als
du.«
»Nur fünf Jahre. Und er hatte viele
schreckliche Erfahrungen gemacht. Er war erwachsen.«
»Schreckliche Erfahrungen, als er aus
Vietnam geflohen ist?«
»Sowohl da als auch hier in diesem
Land.«
»Was ist ihm hier passiert?«
»Dinge, die wir alle gemeinsam haben.
Ich kann es nicht erklären.«
Ich ließ es für den Augenblick dabei
bewenden. »Hoa hat die Schule besucht? Elektronik studiert?«
»Ja.«
»Gehst du auch zur Schule?«
»Jetzt nicht. Ich arbeite im
Restaurant. Mein Vater möchte, daß ich irgendwann einmal das College besuche,
aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte.«
»Warum nicht?«
Er rutschte unruhig auf der Armlehne
herum. »Ich weiß wirklich nicht, was Ihre Fragen über mich mit Hoa zu tun
haben.«
»Ich versuche nur, mir eine Vorstellung
davon zu machen, wie Hoas Leben ausgesehen hat. Manchmal erfährt man am
meisten, wenn man Fragen nach dem Leben seiner besten Freunde stellt.«
»Verstehe.«
Das führte zu nichts. Ich versuchte es
auf einem anderen Weg. »Was habt ihr, Hoa und du und eure anderen Freunde,
zusammen gemacht?«
»Das übliche.«
»Seit ihr ins Kino gegangen?«
»Nein.«
»Wie sieht es mit Ballspielen aus? Mit
Sport?«
Ducs Lippen kräuselten sich leicht.
»Nein. Wir sind — waren — nicht an Sport interessiert.«
»Woran dann?«
»Wir haben geredet. Wir sind in der
Nachbarschaft herumgelaufen.«
Gleich um die Ecke hatte ich eine
Spielhalle mit Video-Spielen gesehen, also erkundigte ich mich: »Und was ist
mit Video-Spielen? Habt ihr die gespielt?«
»Nein.« Er stand von der Couch auf und
ging zum Fenster, starrte hinaus. Es ging auf eine Gasse hinter dem Haus
hinaus, eine Ziegelwand mit ähnlichen Fenstern war nur wenige Schritt entfernt.
»Warum nicht? Viele der Leute hier in
der Gegend haben ihren Spaß daran.«
Er blieb eine Weile stumm. »Hoa und ich
und unsere Freunde, wir sind nicht so wie sie.«
»In welcher Beziehung?«
Zorn schwang in seiner Stimme mit, als
er sagte: »Wir treiben keinen Sport oder spielen Video-Spiele. Wir gehen nicht
ins Kino oder zu Ballspielen.«
»Warum nicht? Sind diese Dinge so
schlimm?«
Er drehte sich um und sah mich an. »Das
ist was für Amerikaner, aber
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