Nette Nachbarn
abgetragenen Wildlederjacke war jedes
einzelne ihrer sechs Jahre anzusehen. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, daß
mich eine der eleganten Damen beobachtete. Sie fragte sich ganz offensichtlich,
was ich im Waschraum eines so vornehmen Kaufhauses tat.
Normalerweise hätte mich das amüsiert,
aber jetzt wäre ich am liebsten zu ihr hinübergegangen und hätte sie
geschüttelt, hätte ihr gesagt, daß sie keinen Grund hatte, so überheblich zu
sein. Schließlich hatte sie es nie nötig gehabt, sich ihren
Lebensunterhalt selbst zu verdienen, hatte niemals lange Stunden in einem
erschöpfenden Job arbeiten müssen, hatte niemals den zerschmetterten Leichnam
eines Jungen in einem Hotel im Tenderloin entdecken müssen.
Natürlich ging ich nicht zu ihr
hinüber. Statt dessen holte ich meinen Wagen aus der Tiefgarage und fuhr durch
die Stadt nach Bernal Heights und All Souls. Es wurde Zeit, Hank mit der
Zukunft meines anstrengenden Berufes zu konfrontieren, hatte ich beschlossen.
ELFTES
KAPITEL
Auf keiner Seite des grasbewachsenen,
dreieckigen Parks, der die Straße vor dem Haus teilte, in dem All Souls
untergebracht war, gab es einen Parkplatz. Und in der Auffahrt stand ein weißer
Volvo. Nachdem ich fünf Minuten lang vergebens umhergefahren war, parkte ich
parallel vor der Auffahrt und hinterließ an Teds Schreibtisch eine Nachricht,
daß ich in Hanks Büro war, sollte der Besitzer des weißen Volvos mich bitten,
beiseite zu fahren. Dann ging ich den Flur entlang, ignorierte das ›Bitte nicht
stören‹-Schild und klopfte an Hanks Tür.
Ein wütendes Knurren erklang von innen,
und ich trat ein. Mein Chef saß hinter seinem überhäuften Schreibtisch. Er trug
eines der karierten Holzfällerhemden, die er neuerdings so liebte, und sein
hellbraunes Haar sah aus, als könnte es dringend einen neuen Schnitt
gebrauchen. Als er mich sah, knurrte er noch etwas mehr, nahm seine Hornbrille
ab und fing an, die Gläser mit den Enden seines Hemdes zu putzen. Ohne die
dicken Linsen sahen seine Augen aus wie die eines müden kleinen Jungen.
»Hast du ein paar Minuten Zeit?« fragte
ich.
Er zögerte, deutete dann aber auf einen
der Klientenstühle. »Wo hast du in den letzten Tagen gesteckt?« wollte er
wissen. »Ich habe dich überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
»Das dürfte auch schwer sein, wenn du
immer die Tür zu hast.«
Er ignorierte meine Worte, untersuchte
die Gläser seiner Brille und setzte sie dann wieder auf. »Bist du immer noch an
der Globe-Hotel-Sache? Hab’ gesehn, daß da jemand umgebracht worden ist.«
Natürlich wußte er wieder über alles
genau Bescheid; Hank las unsere beiden Tageszeitungen — wie auch die aus
verschiedenen anderen Städten — mit mikroskopischer Aufmerksamkeit fürs Detail.
Und wenn sie ihm nicht genug verraten hätten, hätte er immer noch seinen guten
Freund Greg Marcus um weitere Informationen bitten können.
»Ja, ich bin noch dran«, antwortete ich
und informierte ihn darüber, was ich getan hatte.
Als ich endete, sagte Hank: »Na ja,
bleib dran, solange der Klient es wünscht. Und halte mich auf dem laufenden,
wie es so geht.«
Ich wartete, begriff dann, daß das eine
Verabschiedung war. Hank würde sich nicht mit mir zusammen in Spekulationen
bezüglich des Motivs oder Täters ergehen; er würde mich nicht auffordern, meine
anderen Pflichten für das Büro nicht zu vernachlässigen; er würde mich nicht
einmal necken, weil ich auf Greg gestoßen war, oder trockene Kommentare dazu
abgeben, daß der Lieutenant und ich eines Tages doch wieder zusammenkommen
würden. Das war nicht der Hank Zahn, den ich seit unserer gemeinsamen
Collegezeit kannte, und seine neue Art machte mir noch mehr angst als die
gespannte Stille, die sich auf All Souls gesenkt hatte.
Ich wollte aufstehen, setzte mich dann
aber wieder. Hank sah mich an, und ich konnte in seinen Augen sowohl Zorn als
auch Erleichterung ausmachen. Er wußte, was kommen würde.
»Ist es nicht an der Zeit, daß du mir
sagst, was los ist?« erkundigte ich mich.
Er fing an, einen Stapel Papiere
auszurichten, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. »Was meinst du?«
»Du weißt sehr gut, was ich meine.« Ich
zählte die Punkte an den Fingern ab. »Fast alle sind aus den Zimmern oben
ausgezogen. Du versteckst dich ständig in deinem Büro. Irgend jemand hat Ted so
sehr eingeschüchtert, daß er Angst hat, seine Kreuzworträtsel zu lösen. Ich
bekomme dumme Notizen, weil ich meinen Wagen in der
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