Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
unschuldigen Vietnamesen eine leichte Beute sahen,
Menschen wie Otis Knox...
    Carolyn schien gespürt zu haben, was
ich dachte, denn sie sagte: »Es geht nicht nur um die Drogensüchtigen und die
Zuhälter. Da sind auch noch die Irren —«
    »Wie Bruder Harry, der
Straßenprediger.«
    »Ja, wie Bruder Harry. Psychologen
nennen sein Verhalten ›grandios‹. Er glaubt, er hätte Anweisungen von Gott
erhalten, um Seelen zu retten, und das tut er auf bizarre Art, wie zum Beispiel
das unsinnige Predigen vor Menschenmengen.«
    Unwillkürlich dachte ich an Jesus
Christus. Er hatte auch gepredigt, und die Sache mit den Broten und den
Fischen war nun wirklich bizarr.
    »Bislang«, fuhr Carolyn fort, »ist
Harrys Verhalten nur sonderbar, nicht gefährlich. Aber es besteht immer die
Möglichkeit, daß es sich zum Schlechten hin entwickelt. Und es gibt viele, die
so sind wie er. Dieser Mann in der Militäruniform, der die Bürgersteige auf und
ab marschiert, dabei salutiert und Befehl erteilt. Die alte Dame mit dem Schirm
— hast du sie gesehen? Sie hat ihn immer aufgespannt, bei Regen und Sonne. Und
dann ist da noch der Mann mit dem Meißel, der die Mosaiksteine von der Taj
Mahal Bar in der Turk Street stiehlt. Er meißelt sie aus, der Besitzer ersetzt
sie schließlich, und dann klaut er sie wieder.«
    Sie machte eine Pause, war jetzt,
nachdem sie es sich von der Seele geredet hatte, ein wenig ruhiger. »In den
Zeitungen stehen immer wieder Artikel über diese Leute. Sie nennen sie
farbenprächtige Charakteren Das sind sie bestimmt — aber was ist, wenn sie
aufhören, einfach nur farbenprächtig zu sein, und gefährlich werden?«
    »Ja, wirklich? Es gibt nicht viel, was
da getan werden kann«, sagte ich. Der Polizeifunk-Code 800 bedeutet ›Irrsinn
auf der Straße‹ und ruft Beamte an den Ort solcher Vorkommnisse. Aber wenn ein
Mensch nicht eine Gefahr für sich oder andere darzustellen scheint, kann er
nicht festgehalten werden. Wenn er gefährlich zu sein scheint, kann er für nur zweiundsiebzig Stunden zur Beobachtung festgehalten werden. Die
meisten Menschen werden am Ende dieser Zeit auf freien Fuß gesetzt, erhalten
nur eine Empfehlung an ein Zentrum für geistige Gesundheit. Und nur die
wenigsten machen Gebrauch von dieser Empfehlung.
    »Carolyn«, erkundigte ich mich nach
einer Weile, »hältst du Bruder Harry für gefährlich?«
    »Er ist haßerfüllt. Aber gefährlich?
Ich weiß nicht.«
    »Wie steht es mit Jimmy Milligan?«
    »Wem?«
    »Er ist ein bärtiger Mann, der Gedichte
rezitiert.«
    »Ach, der. Hab’ ihn in der Nähe vom
Globe gesehen. Mary Zemanek gibt ihm hin und wieder mal ‘nen Job. Warum fragst
du nicht sie?«
    Das hatte ich getan, und Mary schien
viel von Jimmy zu halten. »Was ist mit den anderen, die im Globe wohnen?«
    »Ich kann nur für die Leute sprechen,
die ich dort untergebracht habe, und das sind alles gute Bürger — oder
vielleicht sollte ich lieber sagen, Möchtegern-Bürger. Da ist natürlich
noch diese dicke Frau.«
    »Wer?«
    »Diese Blumenverkäuferin, die dich
neulich zur Wohnung der Vangs gebracht hat. Sallie Hyde.«
    »Was ist mit ihr?«
    »Sie ist eine Mörderin.«
    »Was?!«
    Carolyn hielt eine beschwichtigende
Hand hoch. »Nun, das ist schon vor langer Zeit passiert. Ich weiß auch nur
davon, weil ihre frühere Bewährungshelferin unserem Vorstand angehört. Aber
Sallie Hyde war sieben Jahre im Gefängnis wegen Mordes an einem Kind, auf das
sie aufpassen sollte. Du solltest ihre Bewährungshelferin fragen — sie arbeitet
inzwischen nicht mehr — , wenn du Einzelheiten wissen willst.«
    Ich war plötzlich traurig, denn ich
mochte Sallie Hyde. Trotzdem, Mörder neigen manchmal dazu, ihre Taten zu
wiederholen, wenn die Morde aus einer tiefverwurzelten inneren Unruhe heraus
entstanden. »Wie heißt diese Bewährungshelferin?«
    Carolyn schlug ihr. Adreßbüchlein auf
und gab mir Namen und Telefonnummer der Frau. Dann sah sie auf die Uhr. »Ich
bin am Verhungern. Hast du schon gegessen?«
    »Nein.« Erst jetzt wurde mir bewußt,
daß ich den ganzen Tag über nichts weiter zu mir genommen hatte als das Bier
mit Otis Knox. Anfangs hatte ich auch keinen Appetit, wegen des Mordes; aber
jetzt verspürte ich Heißhunger.
    »Gut«, meinte Carolyn. »Laß uns in das
Restaurant der Vangs gehen. Es ist wirklich ein gutes, und ich kann dir
garantieren, daß die Vangs uns mit einem Festessen beehren werden. Außerdem
wirst du dort ein aufmerksames Publikum haben, solltest du irgendwelche

Weitere Kostenlose Bücher