Nette Nachbarn
Und ich
bin seitdem auch noch nicht wieder da gewesen.«
Obwohl ich wußte, daß es unvernünftig
war, fühlte ich mich doch vernachlässigt und verletzt. »Wo, zum Teufel, hast du
gesteckt?«
»Remedy Lounge.« Das war Hanks
Lieblingsbar.
»Toll. Ich hätte umgebracht werden
können, weil du mit einem Haufen Kneipenhocker Scotch gesoffen hast.«
»Ich saufe nicht.« Hank war an meine
kleinen, aber dramatischen Anfälle gewöhnt; er hörte sich nicht beunruhigt an
und war noch weniger beleidigt, weil ich sein Wasserloch mit Schmutz beworfen
hatte. »Wer hat versucht, dich umzubringen?«
»Niemand. Schon gut. Ich melde mich
morgen bei dir.« Ich legte den Hörer auf und schaute Carolyn an, erwartete
zumindest einen fragenden Blick. Sie starrte ins Leere, hatte scheinbar kein
Wort von meiner Unterhaltung gehört.
»Schlimmer Tag?« erkundigte ich mich
vorsichtig.
Sie verdrehte die Augen und legte die
Fingerspitzen an die Stirn. »Schlimm ist gar kein Ausdruck. Ich war stundenlang
mit dem Vorstand eingesperrt. Verstehst du was von gemeinnützigen
Organisationen?«
»Nun, ich denke, ich arbeite für eine,
weil All Souls nur selten Gewinn macht. Aber im offiziellen Sinn — nein.«
»Der Vorstand in so einer Organisation
kann pingelig und uneffektiv sein, vorsichtig ausgedrückt. Die Mitglieder
werden oft nur gewählt, weil sie die einzigen sind, die bereit sind, diese
Aufgabe zu übernehmen. Unser Vorstand ist besonders schlimm; diese Leute haben
keine Ahnung von der Welt, wie sie wirklich ist, und sie begreifen überhaupt
nicht, welchen Schwierigkeiten wir gegenüberstehen.«
Ich verstand, daß sie das einmal
aussprechen mußte. »Du versuchst, mit ein paar ziemlich schlimmen Problemen
fertig zu werden, ja?«
»Die Probleme sind riesig. Wir hatten
einen Zustrom von Tausenden von Menschen hier in dieser Stadt, der uns noch
jahrzehntelang beschäftigen wird. Es hängt davon ab, wie wir jetzt damit
umgehen, ob ihre Wirkung positiv oder negativ sein wird. Es sind Menschen, die
kein Eigentum haben, die die Sprache nicht sprechen, die unsere Art zu leben
nicht verstehen. Sie müssen ernährt, untergebracht und schließlich angepaßt
werden. Ein einziger Punkt spricht für uns: Sie sind sehr ehrgeizig und bereit
zu lernen. Sie wollen ihren Weg selbst gehen. Aber das ist ungefähr
alles, was uns hilft.«
»Ich schätze, die Sprachbarriere ist
das größte Problem?«
»Eines der größten. Bei den gebildeten
Flüchtlingen geht es bloß darum, sie in Intensivklassen unterzubringen; nach
kurzer Zeit sind sie dann wieder soweit, daß sie ihren früheren Beruf ausüben
können, ein Geschäft leiten oder eine technische Ausbildung machen. Aber da
sind auch noch andere — die Hmong zum Beispiel.«
»Wer?«
»Die Hmong. Sie sind ein primitiver
Stamm. Der Name bedeutet ›Freies Volk‹. Sie sind große Kämpfer; haben hart
gegen die Kommunisten gekämpft. Die US-Regierung hat achtundfünfzigtausend von
ihnen 1978 einwandern lassen, als Anerkennung ihrer antikommunistischen
Aktivitäten. Zum Glück für mich sind die meisten von ihnen in ländlichen
Gebieten angesiedelt worden — allein in Fresno County leben zwölftausend. Aber
weißt du was? Die Hmong haben nicht einmal eine geschriebene Sprache!«
»Du machst wohl Witze?«
»Nein, mache ich nicht. Es ist schon
schwierig genug, gebildeten Asiaten Englisch beizubringen. Aber kannst du dir
vorstellen, wie es ist, wenn du nicht einmal von einer so simplen Grundlage wie Schreiben ausgehen kannst?«
»Nein, ehrlich gesagt, kann ich nicht.«
Carolyn richtete sich auf, sah mich an,
gestikulierte mit kurzen, abgehackten Bewegungen. Trotz ihrer offensichtlichen
Müdigkeit fühlte ich, wie gespannt sie war. »Da ist also die Sprachbarriere«,
fuhr sie fort. »Dann kommt die Unterbringung. Wo bringt man diese Menschen
unter? Sie haben kein Geld; wir haben auch nicht viel; die Mieten in San Francisco
sind hoch. Wohin bringt man sie also? Ins Tenderloin. Wenn man Glück hat, ist
das Gebäude so hübsch wie das Globe Hotel. Aber man hat nicht immer Glück. Ich hasse es, meine Leute im Tenderloin unterbringen zu müssen. Das ist ungefähr so, als
ob man ein Baby in die Löwengrube wirft.«
Ich dachte an das Globe Hotel. Gemessen
an den Maßstäben des Tenderloin war es hübsch. Die Leute dort — die
Kaukasier wie Sallie Hyde und Mary Zemanek — hatten die Flüchtlinge wirklich
gern. Aber im übrigen Tenderloin war es ganz und gar nicht so; es war voller
Menschen, die in den
Weitere Kostenlose Bücher