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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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hörte Betsy ihren Mann sagen.
    Merkwürdig, dass Johann Isidor jetzt so offen mit ihr redete. Früher hatte er das wahrhaftig nicht getan, immer nur angedeutet und abgewiegelt. Allerdings war Betsy nicht sicher, ob sie noch schlief oder schon wach war. Es bestand indes kein Zweifel, dass Otto seine Bleisoldaten zur Schlacht von Sedan aufmarschieren ließ. Die ganze Armee. Das Kind war komplett meschugge mit seinen Soldaten. »Vorsichtig, Otto, wenn deine verdammte Kavallerie in den Trommeltisch reitet, der ein Erbstück deines seligen Großvaters ist, lernst du deine Mutter kennen!«
    Erst als die Waffen schwiegen und Otto aus dem Zimmer rannte – natürlich ohne aufzuräumen! –, ging Betsy auf, dass die Zwillinge ihre Klavierstunde hatten. Die Geschenke für ihren zehnten Geburtstag lagen schon eingepackt im Wäscheschrank, die Einladungen zur Geburtstagsfeier waren verschickt. Frau Meyerbeer hatte als Erste zugesagt. Warum denn bloß? Ihre Tochter war ja nicht nur erwachsen, sondern bereits eine alte Jungfer. »Nein, Clara, du kannst nicht deine ganze Klasse einladen. Erstens sind wir keine Millionäre, und zweitens gibt es in deiner Klasse Kinder, die nicht zu uns passen. Nur zwei Torten, Josepha, und den Sandkuchen, den Sie um die Osterzeit immer so hübsch mit Nougateiern verzieren. Mehr wäre viel zu protzig. Der fünfzigste Geburtstag ist nicht der zehnte. Das wollen wir nicht vergessen.«
    Clara und Erwin übten das vermaledeite Klavierstück »Der treue Palladin« ein, für das ihre vermaledeite Lehrerin schwärmte. Die beiden Unzertrennlichen spielten so grässlich falsch und kicherten so unverschämt laut, dass Betsy sich noch nach vierzig Jahren ärgerte. »Clara, ein Mädchen, das nicht Klavier spielen kann, bekommt keinen Mann.« – »Ich will keinen Mann, Mutter. Ich heirate Erwin.« – »Das wirst du dir noch schön überlegen. Ich wollte unseren Schornsteinfeger heiraten.«
    Betsy merkte, dass die Zeit knapp wurde. Solange eine alte Frau noch Verpflichtungen hatte, tat sie gut daran, nicht zu lange in der Welt von gestern herumzutrödeln. Es führte nur in die Sackgasse, wenn man schmerzlichen Erinnerungen nicht beizeiten Einhalt gebot. Wer sich nicht mehr um die Zukunft scherte, der hörte auch die Vögel nicht mehr zwitschern und sah die Blumen nicht mehr blühen.
    »Riech mal, Ora, das ist eine Rose. Eine rote Rose. Ich sah des Sommers schönste Rose stehen. Sie war, als ob sie bluten könne, rot. Das ist von Friedrich Hebbel. Du brauchst im Leben nicht zu lernen, was die Welt zusammenhält, Ora, oder wer Amerika entdeckt hat, aber merk dir, wie eine Rose riecht. Deine Uromi hat das noch nicht einmal in Theresienstadt vergessen.«
    Die Kinder trommelten mit einem Löffel gegen einen Topf. Das war auf keinen Fall Vergangenheit. Das war Gegenwart. Und was für eine! Eine Zumutung. Ob Fanny denn nicht wusste, dass nur ganz kleine Kinder mit Löffeln gegen Töpfe schlagen durften? »Dann lieber die Schlacht von Sedan mit der ganzen Kavallerie«, entschied Betsy. »Otto hatte wenigstens Sinn für Rhythmus.«
    Sie wunderte sich, dass ihre Stimme unnatürlich laut war, und noch seltsamer fand sie es, dass die Uhr viermal schlug. Beim letzten Schlag war sie jedoch so wach, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Die Bilder aus der beruhigenden Dunkelheit des Schlafes lösten sich in einer Helligkeit auf, die ihre Augen quälte. Die Mädchen trommelten nicht mehr, selbst ihre Stimmen waren fort. Das Telefon klingelte. Betsy schaute zur Uhr, die Zahlen tanzten Walzer. Sonst rief doch Fritz erst abends um sechs an, um zu melden, dass er sich auf den Heimweg machte.
    »Fanny, geh doch mal ran«, rief Betsy. »Ich habe ein bisschen geschlafen und komm nicht schnell genug auf die Beine.« Wahrscheinlich war Fanny mit den Mädchen zum Spielplatz unterwegs. Sonst wäre sie bestimmt ans Telefon gegangen. Seitdem ihr Don Juan im Februar abgereist war, und erst recht, nachdem er nicht mehr auf ihren letzten Brief geantwortet hatte, schlich sie bleich und verstört um den Apparat herum, und mit jedem Anruf, der ihre Hoffnungen zunichtemachte, wurde es ein großes Stück schlimmer. Wenn ihr Vater das sah, ließ auch er den Kopf hängen. Als ob es irgendeinen Menschen auf der Welt gebe, der auf die Idee käme, von Montevideo nach Frankfurt zu telefonieren. »Da ist ja eine Brieftaube, die spanisch gurrt, noch wahrscheinlicher«, sagte Betsy zu Clara.
    »Fanny«, rief Betsy noch mal, »hast du denn das Telefon

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