Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Kinder entzückend, herzerwärmend und ein Trost für jede Seelenpein, doch sie spielte nicht gern mit ihnen. Sie erinnerte sich, als wäre es nicht Äonen her, dass sie schon als junge Mutter keine Türme aus Bauklötzchen hatte bauen wollen und nicht mit der Wimper gezuckt hatte, wenn Burgen einstürzten und Eisenbahnen entgleisten; sie hatte lieber Strümpfe gestopft, Marmelade eingemacht und Kakteen gehätschelt als Puppenjäckchen gehäkelt und kranken Teddys die Stirn gekühlt. Ihre Freundinnen hatte Madame Sternberg – ohnehin mit dem Ruf belastet, etwas blaustrümpfig zu sein – einmal mit dem Satz geschockt: »Ehe Kinder Relativsätze bilden können, kann ich mit ihnen nichts Rechtes anfangen.« Ihr Mann, dem sie die Geschichte erzählt hatte, hatte sie dann mit der Frage geschockt: »Was ist denn ein Relativsatz?«
Die Uhr schlug drei. Es war nicht der schöne Regulator von einst, ein prunkvolles Erbstück mit einer achtbaren Vergangenheit, doch trotz ihrer spartanischen Ausführung hatte die Uhr einen ähnlichen Klang wie ihre Vorgängerin, die ein milchgesichtiger junger Mann in SA-Uniform requiriert und in Packpapier gewickelt hatte, während die Sternbergs noch dabei waren, die Wohnung zu räumen.
»Wow«, sagte Rachel, die noch nie eine Uhr hatte schlagen hören.
»Wauwau«, lachte Ora.
»Pst«, mahnte Fanny wieder. »Die Oma schläft.«
»Oma«, versuchte es Rachel.
»Meine Oma«, klärte sie Ora energisch auf.
Es war seltsam, dass ein kleiner zarter Kinderfuß beim Aufstampfen einen solchen Lärm machte. Betsy schüttelte den Kopf. Sie merkte, dass ihre Augen brannten. »Selbst schuld«, murmelte sie. Es war töricht, die Lebensuhr so weit zurückzudrehen. Im Rückblick trugen selbst goldene Zeiten einen Trauerrand.
Obwohl der Tag kalt war und der Frühling so weit entfernt wie selten im April, zwitscherten die Vögel im Hinterhof. Der Dackel vom Schneider im gegenüberliegenden Haus drückte seine Schnauze ans Fenster und bellte Missfallen. Im Hof, an der alten Teppichstange, die turnende Straßenbengel und die Kinder des Hausbesitzers, Bombenkrieg und etliche Mieterwechsel überstanden hatte, klopfte Josepha mit der Lust – und der Kraft! – ihrer frühen Jahre Kissen und Bettvorleger aus.
»Nicht in der Mittagszeit, Josepha, die Kinder schlafen doch.«
»Besser, sie gewöhnen sich beizeiten, dass das Leben eine lausig laute Sache ist, gnädige Frau. Stellen Sie sich vor, es gibt mal einen Krieg. Dann haben die, die Lärm vertragen können, gut lachen. Neben meinem Onkel Gotthold konnten sie Kanonen abschießen. Der hat den Siebziger Krieg mitgemacht und war in Königgrätz dabei.«
Der Wintergarten war sommerhell, die Pflanzen gesund wie früher. Es waren nicht mehr die teuren Exoten der reichen Tage, nicht mehr die eindrucksvollen Anthurien und der empfindliche Hibiskus, der gehätschelt werden musste wie ein Kummerkind. Nur noch Erinnerung war das teure Bäumchen mit den leuchtenden Zwergorangen, das Frau Meininger bei jedem Besuch der Dame des Hauses geneidet hatte. Seitdem es in Frankfurt wieder Blumenhandlungen gab und Menschen, die ihr Geld für Pflanzen ausgaben, standen auf dem breiten Fensterbrett im Wintergarten zwei Usambaraveilchen, die violett und hoffnungsrosa blühten, daneben machten zwei Töpfe mit Fleißigen Lieschen ihrem guten Ruf als dankbare Pflanzen alle Ehre. Krönung der neuen Pracht war das südafrikanische Straußenei. Es thronte auf einem dreibeinigen Ständer aus dickem Draht, der mit winzigen bunten Perlen umwickelt war.
»Und ich habe immer gedacht«, hatte Erwin gesagt, als seine Schwester die Gabe auspackte, »ein Strauß tue nichts anderes, als seinen Kopf in den Sand zu stecken. Ich bin noch nicht einmal auf die Idee gekommen, dass der komische Vogel Eier legt.«
Allen in der Rothschildallee 9 war es so ergangen. Seitdem es da war, wurde das Riesenei jeden Tag aufs Neue bestaunt. Bis ihre Mutter dahinterkam und ihr das lukrative Geschäft bei Androhung von einer Woche Küchenfron untersagte, bot Sophie ihren Mitschülerinnen Führungen zum Sternberg’schen Straußenei an: eine Minute Gucken zwei Pfennig, fünf Minuten mit Erklärungen fünf Pfennig, kleine Geschwister kostenfrei.
Ralfi hatte das Wunderei zitronengelb gestrichen und mit einer südafrikanischen Protea auf der einen und einem Bananenvogel auf der anderen bemalt. Allerdings hatte sich der fantasievolle Künstler bei dem ihm unbekannten Wort Oma verschrieben. Im langen Schnabel vom
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