Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
»Schau mich bitte nicht so an« sang, der mindestens dreimal pro Tag im Radio kam, und wenn David die Melodie erkannte, weil das Lied in Südafrika ebenso populär war wie in Deutschland, erschien ihm der Regenbogen, der Noah das Ende der Sintflut verkündet hatte.
    »Er denkt, ich bin eine Sängerin«, berichtete Sophie beim Abendessen.
    »Hauptsache, du denkst das nicht«, sagte ihr Vater.
    Im Salon, in dem Madame Sternberg einst ihre vornehmen Freundinnen zum Nachmittagstee mit den beliebten Petit Fours aus der Freßgass geladen hatte und die Damen über die beruflichen Erfolge ihrer tüchtigen Ehemänner, das Frankfurter Theater, die Baden-Badener Sommersaison und den ständigen Ärger mit dem Hauspersonal gesprochen hatten, spielten nun Ora und Rachel. Wie David, wenn er durch seine Zauberkugel blickte, wandelten auch sie auf den Spuren der Bibel. Sie wohnten, ohne dass es sie störte, im Turm zu Babel, sprach doch eine jede von ihnen die eigene Sprache und konnte die andere nicht verstehen. Betsy belauschte ihr energisches Enkelkind und ihre ebenso entschlossene Urenkelin. Die beiden standen unmittelbar vor einer Entdeckung von weitreichender Bedeutung: Menschen, die nicht durch eine gemeinsame Sprache verbunden waren, konnten sich nach Herzenslust beschimpfen, ohne dass es zu Unfrieden oder gar einem Krieg kam. Die entzückende Ora mit den großen Kohleaugen, in denen selbst Menschenfeinde die Friedfertigkeit der Sanften zu erblicken vermochten, hatte Rachel soeben einen »Sauhund« genannt, und der kleine Engel aus Afrika hatte seine Gastgeberin als einen »bloody nigger« beschimpft. Trotz ihrer geringen Lebenserfahrung war der süßen kleinen Rachel klar, dass sie dies im heimatlichen Kapstadt allerhöchstens gewagt hätte, wenn sowohl ihre Eltern als auch die Nanny außer Haus gewesen wären.
    »Psst«, wisperte Fanny. »Die Oma schläft. Die wollen wir doch nicht wecken. Sonst weint sie.«
    »Hast du gedacht«, flüsterte Betsy. Sie überlegte, wie eine alte Frau wohl aussah, wenn sie grinste und in der Sprache der Jugend vor sich hin babbelte.
    Es war gut, dass Fanny sich von ihrem Vater für den Besuch aus Kapstadt ihren Jahresurlaub hatte geben lassen, und für Alice war es ein Segen, dass ihre junge Nichte so gern mit den Kindern zusammen war und sie entlastete. Vor allem taten Fanny die Kleinen gut. Für eine verzweifelte junge Frau, die sich Vorwürfe machte, weil sie den einzigen Mann, den sie je würde lieben können, hatte gehen lassen, waren Ora und Rachel ein Gesundbrunnen. »Dich hat der Himmel geschickt«, raunte sie Rachel ins Ohr.
    Der zärtliche Ton lockte Rachel auf die richtige Fährte. Sie lächelte und flüsterte: »God bless you.«
    »Die Mädchen sind genau die Ablenkung, die Fanny jetzt nötig hat«, sagte Betsy, wenn Fritz seine Sünden beichtete. Er konnte sich nicht verzeihen, dass er seiner Tochter nicht mit ganzem Herzen und überzeugend genug zugeredet hatte, Don Juans Werben zu erhören und nach Montevideo zu heiraten.
    »Seit wann heilt es denn ein gebrochenes Herz, Blindekuh im Wohnzimmer zu spielen? Aus meiner blühenden Tochter ist ein Wrack geworden, und es ist alles meine Schuld. Ach, Betsy, ich bin der größte aller lebenden Esel. Es war schon die Crux meiner Ehe, dass ich immer zu spät gemerkt habe, wohin der Hase lief.«
    »Wenn dir Victoria das übelnahm, dann hätte sie überhaupt nicht heiraten dürfen. Kein Mann merkt beizeiten, wie der Hase läuft. Aber dass du dich nicht so gut mit Liebeskummer auskennst wie eine Mutter von vier Töchtern, kann dir wirklich keiner verargen. Selbst Anna, die nie Schwierigkeiten machte, hat uns nicht verschont. Sie hatte sich ja in einen jungen Nazi aus Bayern verguckt. Johann Isidor hat, wie üblich, die Flinte sofort ins Korn geworfen. Doch die schlaue, abgeklärte Betsy hat gesagt: ›Abwarten und Tee trinken.‹ Rate mal, wer recht behalten hat?«
    »Na, wenigstens seid ihr bei Alice verschont geblieben. Sie ist so jung ausgewandert, dass sie gar nicht erst bis zum Liebeskummer gekommen ist.«
    »Von wegen! Nesthäkchen war ab der Quarta in ihre Deutschlehrerin verknallt. Fräulein Dr. Winfried Kranichstein, genannt Winnie. Roter Bubikopf und rote Gesinnung. Ich hatte immer Angst, Johann Isidor würde ihr auflauern und den Hals umdrehen.«
    »Um dein Gedächtnis kann man dich wirklich beneiden.«
    »Nur die Tölpel und Naiven, mein Lieber. Die wissen nicht, was ein gutes Gedächtnis dem Menschen antut.«
    Betsy fand kleine

Weitere Kostenlose Bücher