Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Vogel steckte ein blaues Briefchen, auf dem »For Amo« stand.
»Amo«, tröstete ihn seine gebildete Tante Clara, als der erste deutsche Narr ansetzte, das Kind aus Südafrika auszulachen, »ist viel schöner als Oma. Amo ist Latein und heißt ich liebe.«
»Miau«, jubelte Ora. »Miau, mio.« Ihr hatte die neue Tante ein Gepardenkind mit einer himmelblauen Schleife um seinen gefleckten Hals mitgebracht.
»Shut up«, erwiderte Rachel freundlich.
Betsy saß auf einem kleinen Sofa, das mit einem kaffeebraunen Plüschstoff bezogen war; an der Armlehne aus Holz war ein tiefer Kratzer, und hätte sich einer die Mühe gemacht, das betagte Sitzmöbel auf den Kopf zu stellen, hätte er die Aufschrift »Eigentum der NS-Frauenschaft, Frankfurt-West« gelesen. Die Couch mit Vergangenheit stammte von einem Händler, der in den Zwanzigerjahren in seinem Salon vorwiegend erlesene Stücke aus der Biedermeierzeit angeboten hatte. Nun hatte er statt des Salons auf der Kaiserstraße einen Laden in einem Hinterhof in der Bleichstraße und handelte ausschließlich mit gebrauchten Möbeln. Rechtsanwalt Dr. Feuereisen, der für ihn die ausstehenden Kundengelder einklagte und einen unerquicklichen Rechtsstreit mit dem Hauswirt zu einem erquicklichen Ende gebracht hatte, war einer seiner besten Kunden und genoss Sonderkonditionen.
Das kleine Sofa hatte allerdings Erwin aufgespürt und seiner Mutter im Gedenken an alte Zeiten zu Channuka gekauft, obwohl in der Familie Sternberg immer noch die Losung galt, Channuka nur die Kinder zu beschenken. Jetzt gab es ja nur Ora, Sophie, Lena, Erwin und natürlich Fanny. Mochte sie auch neunzehn sein, sie hatte doch nie Kind sein dürfen und nun gewaltig viel nachzuholen. »Manchmal muss man daran denken, was geschehen ist«, seufzte Betsy, »auch wenn man nicht will. Es kommt von selbst hoch.«
»Wem sagst du das«, stimmte ihr Fritz zu.
Betsy hatte Erwins Geschenk lieb gewonnen, gerade weil es sie nicht an die elegante, mit lindgrüner Seide bezogene Recamiere erinnerte, die bis zum letzten Tag in der Rothschildallee im Wintergarten gestanden hatte. Als junge Frau hatte Betsy dort die »Zeitung für die Dame« gelesen, »Die Gartenlaube« und die von gebildeten Frauen hoch geschätzte »Berliner Illustrirte Zeitung«. Im Wintergarten hatte sie von den literarischen Salons der Vergangenheit geträumt und von Rahel Varnhagen, die Berühmtheiten wie die Humboldts, Heinrich Heine und Prinz Louis Ferdinand um sich versammelt hatte, obwohl sie selbst jüdisch war. Immer wieder ausgemalt hatte sich Betsy die glanzvolle Zukunft der Sternbergs. Ihre schönen Töchter heirateten alle reiche Akademiker, Otto studierte Medizin und Erwin Jura. Beide Jungen machten ihren Doktor mit Auszeichnungen und heirateten Mädchen aus renommierten Familien, deren Väter sie mit reicher Mitgift bedachten. »Red keinen Quatsch, Erwin, ein jüdischer Junge wird nicht Maler. Schlag dir das bloß aus dem Kopf. Und komm mir ja nicht mit Liebermann. Der ist eine Ausnahme. Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester. Clara will nicht nur das Abitur machen, sie will studieren und sieht sich schon als Ärztin. Nebbich. Bei uns in der Familie läuft eben alles ein bisschen verkehrt. Ein Mann soll den Doktor machen, eine Frau heiratet einen.«
Auf dem weißen Tisch vor der Recamiere hatte sich immer ein Stapel Bücher getürmt. Die allerneuesten! »Meine Frau liest nur druckfrisch«, hatte Johann Isidor dem Bankier Weidenfeld erzählt.
»Ein billiges, bildendes Vermögen, lieber Sternberg. Das ist genau das, was sich ein kluger Mann wünscht. Meine Frau Gattin interessiert sich nur für Petitessen, zum Beispiel für Diamanten, Perlen und goldene Ringelchen. Und ab und zu ein paar Nächte im Adlon. Sie behauptet, in Berlin kaufe man Schmuck und Abendrobe vorteilhafter als in Frankfurt. Das letzte Mal gab es als Bonus eine Halsentzündung.«
Johann Isidor war bester Laune gewesen, als er von dem Gespräch mit Weidenfeld erzählte.
Betsy erinnerte sich, als wäre seitdem die Welt nicht zerschlagen worden und kein Völkermord geschehen, wie sie Ernst Glaesers »Jahrgang 1902« gelesen und Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues« verschlungen hatte. Selbst Johann Isidor, der sich nicht für Belletristik interessierte und Männer, die Romane lasen, für Weichlinge hielt, war von Remarque fasziniert gewesen. »Ich sehe die ganze Zeit unseren Otto und wie er es nicht hatte abwarten können, für sein Vaterland zu sterben«,
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