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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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nicht gehört? Also nein«, begriff sie endlich, »wahrscheinlich bist du überhaupt nicht da. Warum sagt mir das keiner?«
    Klingelte denn dieses verfluchte Telefon, das man sowieso nicht brauchte, wenn es keine Seele mehr in der sogenannten Heimatstadt gab, die hätte anrufen können, immer noch? Oder jaulte es schon wieder? Hatten denn diese Teufelsdinger schon immer einen so unverschämten Krach gemacht, oder waren es die Ohren einer alten Frau, die nichts mehr aushielten? Noch nicht einmal fröhliches Kindergetrommel und süße Kinderstimmchen?
    Betsy streckte sich; ihr ging auf, dass sie nach dem Mittagsschlaf längst nicht so steif, altersbenommen und langsam in ihren Reaktionen war, wie sie gedacht hatte. Noch nicht einmal das übliche Ziehen spürte sie im Rücken oder gar den lästigen Druck im Kopf. »Ach«, wunderte sie sich. Wie eine, die die Zeit einholen will, die sie gedankenlos vertan hat, ging sie mit energischen Schritten in die Diele. Der Apparat stand auf einem eigens dafür angefertigten kleinen Wandbord. Mit Zetteln und einem Bleistift, falls es etwas zu notieren gab. Betsy hustete ihren Hals frei, sie straffte ihre Schultern, legte einen der Zettel zurecht und nahm den Hörer ab.
    »Sternberg«, sagte sie entschlossen. Prompt fiel ihr ein, Clara hätte ihr erzählt, man würde sich am Telefon nicht mehr wie früher nur mit dem Nachnamen melden. Das gelte heute als unhöflich und gestrig. »Betsy Sternberg«, verbesserte sie. Sie lächelte, als sie an das Wort gestrig dachte. Eine Frau in ihrem Alter hatte alles Recht der Welt, gestrig zu sein. Sogar vorgestrig. Ein Urgestein aus dem vorigen Jahrhundert war sie.
    Aus der Leitung kam ein infernalisches Geräusch. Es war der gleiche unerträgliche Lärm, der zustande kam, wenn Ora gleichzeitig an sämtlichen Knöpfen vom Radio drehte und dazu aus Leibeskräften brüllte. Krächzende Laute schlugen Betsy entgegen, einen kurzen Moment erschienen sie ihr wie Meeresrauschen, doch schon im nächsten Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung mehr hatte, wie sich ein Meer anhörte, wenn es rauschte. Ihre letzte Begegnung mit dem Meer war im Jahr 1937 gewesen, als Alice ausgewandert war und sie sie nach Hamburg begleitet hatte. Gab es denn überhaupt schon das Meer in Hamburg, oder fuhren die Schiffe da noch auf der Elbe? »Lebewohl, Alice. Du musst nur fest daran glauben, dass wir uns wiedersehen. Hitlers kommen und Hitlers gehen. Das soll ich dir von Vater ausrichten.«
    »Hallo«, rief Betsy ins Telefon. Dann, als es immer stärker rauschte und der Lärm kaum zu ertragen war, schrie sie: »Sternberg. Betsy Sternberg.«
    Aus der Leitung kam endlich eine Stimme. Betsy begriff sofort, dass es eine Frau war, die da sprach. Die Stimme war ungewöhnlich hoch, nein, spitz. Sie klang wie ein pfeifender Wasserkessel. Es gab ja wieder Wasserkessel zu kaufen, die mit einem Pfeifton anzeigten, wann das Wasser am Kochen war. Nach einigen Sekunden, in denen das Pfeifen wieder in Meeresrauschen überzugehen drohte und dies dann doch nicht tat, merkte Betsy, dass es einzelne Worte waren, die die Blechstimme ausspie. Es war noch nicht einmal schwierig, herauszuhören, wann ein Wort zu Ende war und das nächste begann, aber trotzdem verstand Betsy kein einziges. Erst als sie ein knackendes Geräusch hörte, das ihrem malträtierten Ohr sogar leidlich wohltat, und sofort darauf kein Laut mehr aus der Leitung kam, begann es Betsy zu dämmern, dass die Frau mit der Wasserkesselstimme höchstwahrscheinlich nicht Deutsch gesprochen hatte. Betreten legte sie den Hörer zurück auf die Gabel.
    »Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht«, sagte sie zu Josepha, die, ohne dass Betsy sie hatte in die Wohnung kommen hören, mit einem riesigen Marmorkuchen in der Diele stand. Dekoriert war das Meisterwerk mit winzigen mokkafarbenen Nougateiern. Genau wie früher. Als hätte einer die Zeit angehalten. »Erwin, wenn du die Eier naschst, ehe der Kuchen auf dem Tisch steht, bekommst du kein Stück.«
    »Wird denn dieser herrliche Kuchen nicht trocken, Josepha? Der Geburtstag ist doch erst übermorgen. Wo haben Sie bloß die Nougateier her?«
    »Ein Marmorkuchen, den die alte Josepha bäckt, wird nicht trocken, gnädige Frau. Haben Sie denn vergessen, dass ich immer Zitrone in den gebackenen Kuchen tröpfeln lasse? ›Nur Josephas Kuchen hat Saft‹, hat der Herr Sternberg immer gesagt. Die Nougateier hat Anna selbst gemacht. Erwin wollte doch immer Nougateier auf seinem

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