Neubeginn in Virgin River
sah ziemlich Furcht einflößend aus und wirkte alles andere als stabil.
Bevor sie ihn überhaupt ansprechen konnte, sagte er schon: „Ich brauche etwas gegen Rückenschmerzen.“
„Was brauchen Sie denn?“, fragte sie ruhig, denn aus ihren Erfahrungen in der Großstadt wusste sie noch sehr gut, wie man mit solchen Typen umgehen musste.
„Schmerzmittel. Ich brauche etwas gegen Schmerzen. Fent-anyl vielleicht. Oxycontin. Oder Morphium. Irgendwas.“
„Haben Sie sich den Rücken verletzt?“, fragte sie weiter und versuchte, seinem Blick auszuweichen, während sie auf Docs Veranda zuging. Er zuckte, und es riss ihn hin und her, und jetzt, wo er stand, anstatt auf einem niedrigen Stuhl zu sitzen, konnte sie sehen, wie groß er war. Er musste fast ein Meter achtzig groß sein und hatte breite Schultern. Offensichtlich hatte er irgendein starkes Aufputschmittel in die Finger bekommen … Vielleicht war es ja tatsächlich Metham-phetamin, wie Doc damals vermutet hatte. Und nun brauchte er ein Narkotikum, das ihn wieder von seinem Trip runterholte. Der Pot aus seinem Garten schien ihm da nicht weiterzuhelfen.
„Bin da draußen von einem Felsvorsprung gefallen. Fast hätte ich mir das Kreuz gebrochen. Wird schon wieder, aber ich brauche ein bisschen Medizin.“
„Gut. Sie werden mit Doc sprechen müssen“, sagte sie.
Nervös hampelte er auf den Füßen herum. Dann zog er eine Hand aus der Tasche und packte sie am Ärmel. Sie riss sich von ihm los.
Jack, der nach ihr vom Ferienhaus losgefahren war, kam gerade im Dorf an, als Calvin diese Bewegung machte, und für den Bruchteil einer Sekunde tat er ihr fast leid. Jack gab Gas, kam mit quietschenden Bremsen wenige Zentimeter vor Does Veranda zum Stehen und war schon in der nächsten Sekunde aus dem Truck heraus. „Lass sie in Ruhe!“, schrie er ihn an.
Der Kerl wich zurück, aber nur wenig. Er sah Mel an. „Ich brauche nur etwas gegen die Schmerzen in meinem Rücken“, wiederholte er.
Jack griff in seinen Truck und legte die Hand auf sein Gewehr. Sein Augenausdruck war beängstigend. „Mit mir ist alles in Ordnung“, versicherte Mel ihm. Dann wandte sie sich an den zuckenden jungen Mann. „Ich verschreibe die Medikamente nicht, auf die sie aus sind. Das überlassen wir dem Arzt. Und der wird Sie zweifellos röntgen wollen.“
Der Typ starrte sie an und grinste dann blöde. „Sie haben doch gar kein Röntgengerät.“
„Im Valley Hospital gibt es eins“, erwiderte sie.
Jack zog das Gewehr aus der Halterung, stieß mit dem Fuß die Wagentür zu und stieg auf die Veranda. Er legte einen Arm um Mel und zog sie an sich. „Willst du den Arzt sprechen?“, fragte er Calvin mit dem Gewehr in der Hand.
„Hey, Mann.“ Er lachte nervös. „Was soll das, Mann?“ Dann wich er mit erhobenen Händen zurück. „Immer mit der Ruhe. Ich fahre nach Grace Valley“, erklärte er und sprang mit einem Satz von der Veranda. Das müssen ja schlimme Rückenschmerzen sein, dachte Mel. Er kletterte in den alten Pick-up, warf den Motor an, legte den Gang ein und fuhr davon. Aber er fuhr nicht in Richtung Grace Valley – er fuhr in den Wald.
„Kennst du ihn?“, fragte Jack.
„Er war in dem Camp, das ich mit Doc zusammen vor ein paar Monaten besucht habe. Als du für uns auf das Baby auf-gepasst hast. Du erinnerst dich doch …“
„Paulis?“
„Ja … Huuh. Musstest du das tun?“, fragte Mel und sah auf sein Gewehr. „Er hat wirklich nichts Bedrohliches getan.“
Wütend blickte Jack dem Truck hinterher. „Ja“, sagte er. „Das musste ich. Er irrt sich. Er vertut sich ganz einfach.“
14. KAPITEL
J eden August, bevor die Schule wieder anfing, luden die Andersons zu einem riesigen Spätsommerpicknick auf ihre Ranch ein. Alle ihre Bekannten aus Virgin River und auch einige Leute aus den umliegenden Dörfern ließen sich sehen. Buck besaß ein großes Zelt aus Segeltuch, das er auf der Weide vor dem Viehpferch aufgebaut hatte. Grille, Tische und Stühle wurden aufgestellt. Die Bristols hatten ihre Zwergponys mitgebracht, auf denen die Kinder reiten durften. Jack spendierte bei jedem dieser Picknicks zwei Fässer Bier, während Preacher einen seiner besten Kartoffelsalate in einer Wanne angerührt hatte, die so groß war, dass ein ganzes Drittweltland davon hätte satt werden können. Es gab tonnenweise Limonade und Eistee und Kühlboxen voller Selters. Und am Nachmittag wurden dann die handbetriebenen Eismaschinen aus den Trucks und Jeeps geholt, und die
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