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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Möglichkeit, um die Motoren zu kühlen. Den Zeiger des Thermostats sah ich nicht, er war schon jenseits der roten Zone. Jeden Augenblick drohten die Motoren festzufahren. Ein solcher Vorfall konnte als Akt der Sabotage mit Schwedt, mit Militärgefängnis, bestraft werden. Udos Kinn verharrte über meiner Schulter, wir starrten auf den Thermostat. Ich roch seinen Schlafatem und erwartete mein Urteil. Aus Blödheit nach Schwedt, das wäre nicht zu ertragen!
    Als sich der Zeiger zu bewegen begann, spürte ich Udos Hand in meinem Nacken, er schien mit aller Kraft zuzudrücken. Dann öffnete er die Luke und kletterte hinaus. Ich wartete, bisich die Motoren abstellen konnte, und folgte ihm. Ich dachte, er stünde irgendwo in der Nähe und rauchte. Aber ich fand ihn nicht. Es war noch dunkel und vollkommen still, als ich zu einem Spaziergang aufbrach. Von einem Augenblick auf den anderen gab es nichts mehr, was an Armee erinnerte. Keine Wachen, kein Stacheldraht, keine Scheinwerfer, nur der weiche Boden und die Stille. Die Fahrzeuge waren genauso unwirklich wie die Bäume, verzauberte Reptilien, die im Schlaf murmelten.
    Je weiter ich ging, desto größer wurde meine Erregung. Ich weiß nicht, wie lange ich so lief. An einem Feld blieb ich stehen, ließ die Hosen herunter und hockte mich hin. Es war gewaltig, was ich da alles aus mir herausbeförderte. Mir schien, daß ich mich nicht nur von dem entleerte, was ich in den letzten Tagen in mich hineingestopft hatte, sondern daß ich all das los wurde, was ich je an Bedrückung, an Angst und Qual geschluckt hatte. Mit dem nackten Hintern überm Waldboden in der ersten Morgendämmerung war ich der glücklichste und freieste Mensch, den Sie sich vorstellen können. Mit der Morgenröte sah ich auch meine Sonne aufgehen. Ich hatte es hinter mir, ich kehrte zurück aus der Hölle, es war nur eine Frage der Zeit, wann ich mein Buch vollenden würde. Diese Minuten waren der Urmeter meines Glücks.
    Noch am Abend begannen meine Versuche, dieses Erlebnis zu beschreiben. Und bei allem, was ich später änderte, verwarf oder umstellte, immer sollte das Buch mit diesem unerwarteten Glück und der Morgenröte enden.
    Am Tag der Entlassung, als ich am späten Nachmittag mit meiner schwarzen Tasche von der Straßenbahnhaltestelle kam, lief ich meiner Mutter in die Arme. Sie setzte die Einkaufstaschen mit den leeren Flaschen ab, fiel mir um den Hals und ließ mich auch dann nicht los, als ich sie darum bat.

 
     
    Sonntag, 29. 4. 1990
     
    Ich war zurückgekehrt, aber ich hatte ein Problem mit nach Hause gebracht. Nikolai hatte mich eingeladen, mit ihm ein Wochenende in der Sächsischen Schweiz zu verbringen. Ich wußte nicht, wie ich diese zwei Tage mit ihm überstehen sollte. 193
    Als Nikolai mich abholte – in einem weißen halboffenen Hemd, ausgewaschenen Jeans und einer ins Haar geschobenen Sonnenbrille lehnte er am Geländer unseres Treppenhauses –, folgte ich ihm wie jemand, der ins Wasser geht, obwohl er weiß, daß er nicht schwimmen kann. Die Stunden mit ihm zu beschreiben ergäbe eine eigene Geschichte. Ich fühlte mich schuldig, Hoffnungen in ihm genährt zu haben. Er war es nicht gewohnt, werben zu müssen. Sobald er auf Widerstand stieß, wurde er herrisch. In der Nacht hätten wir uns fast geprügelt. Wir hatten unsere Schlafsäcke auf einem Felsvorsprung ausgebreitet. Ein paar Meter weiter ging es in die Tiefe. Nicht mal sein Gesicht habe ich in der Dunkelheit richtig gesehen. Nur am Klang seiner Stimme erahnte ich dessen Ausdruck. Mit seiner Arroganz, seinen Vorwürfen, seinem Hohn und Spott, ja selbst mit seiner Verachtung konnte ich umgehen. Entsetzlich jedoch war sein Selbsthaß. Ich hielt mir die Ohren zu, so unerträglich war das, was ich zu hören bekam. Auch trösten konnte ich ihn nicht. Die ganze Nacht habe ich ihn bewacht. Als er endlich schlief, begann es schon zu dämmern. Ich mußte nicht viel zusammenpacken. Ja, ich bin einfach davongelaufen. Nikolai habe ich nie wiedergesehen.
    Achtzehn Monate lang hatte ich meine Rückkehr ersehnt.Wohin aber war ich zurückgekehrt? In eine Welt, die mich nicht interessierte, in der es nichts für mich gab, das aufzuschreiben sich lohnte. Bei der Armee war jede gut genutzte Minute ein unerwartetes Geschenk, jeder überstandene Tag ein Sieg gewesen!
    Statt Zeugnis von der überstandenen Hölle zu geben, fühlte ich mich aus dem Paradies vertrieben. Meine Welt stand kopf. Und eins kam zum anderen.
    Veras damaliger Freund

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