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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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die Thomas-Mann-Buchhandlung ging oder einfach nur den Platz überquerte, konnte sich im nächsten Augenblick in einen Demonstranten oder einen Stasibüttel verwandeln.
    Die »persönlichen Gespräche«, die ich aus der Schule kannte(selbst bei der Armee hatte es ähnliche Versuche gegeben), fanden an der Universität ihre Fortsetzung. Es wurde vorausgesetzt, daß man als »männlicher Student« seine Bereitschaft, Reserveoffizier zu werden, schriftlich erklärte. Nach meiner ersten Weigerung, deren Begründung nicht ganz einfach gewesen war, erhielt ich die Einladung zu einem Gespräch mit der grauen Eminenz des Hauses, Ordinarius für Archäologie Professor Samthoven (das »v« soll früher einmal ein »f« gewesen sein), eine durch und durch gepflegte, ja geradezu manierierte Erscheinung. Auf seinen dichten, makellos getrimmten Bart war er so stolz wie auf seine kleinen Füße und schmalen manikürten Hände. Während des Proseminars rauchte er Zigarillos (auch wir durften rauchen) und benutzte eine Reitgerte als Zeigestab. Er genoß den Ruf, ein Casanova zu sein. Jedenfalls bevorzugte er hemmungslos die hübscheren Studentinnen, vor allem wenn sie langes Haar hatten. Seit ich das Schema (Skema, sagte er) eines Sonetts an die Tafel skizziert hatte (er legte »höchsten Wert« auf Allgemeinbildung) und mir die Beschreibung frühgeometrischer Vasen für einen Anfänger leidlich gelungen war, überschätzte er mich maßlos.
    Er bat mich, Platz zu nehmen, und führte sich geradezu väterlich auf, kochte Tee und schob mir einen Aschenbecher hin. Beide hatten wir die Beine übereinandergeschlagen, sahen auf unsere ungleich großen Schuhe herab, die leicht wippten und sich dabei fast mit den Spitzen berührten. Mit Daumen und Mittelfinger strich er sich über die Mundwinkel, preßte die Lippen aufeinander und begann zu sprechen. Ich solle mich nicht darüber wundern, daß er mich zum Gespräch gebeten habe. Doch bevor jene, die dafür ihr Geld bekämen, mit mir redeten – er meinte damit nicht die Stasi, sondern Kollegen, deren Stellung sich erst in zweiter Linie ihrem fachlichen Wissen verdankte –, wolle er sich selbst das Vergnügen gönnen, mit mir zu plaudern,einfach nur um sicherzugehen, daß ich auch alles bedacht hätte, bevor ich meine endgültige Entscheidung träfe. Er schenkte Tee ein.
    Außer ihm habe hier wohl noch niemand davon erfahren, daß ich Unteroffizier sei … ich wollte widersprechen, mich erklären – er wisse, was ich vorzubringen beabsichtige, doch solle ich ihn ausreden lassen. In der Tatsache, daß ich Unteroffizier sei, sehe er schon etwas Beschämendes. Doch nicht so, wie ich vielleicht dächte, ganz im Gegenteil. Jeder Staat, egal ob Ost oder West, hole sich die Offiziere aus seiner Elite. Das sei überall so, nur bei uns nicht. Bei den Polen, Russen oder Tschechen werde man gar nicht gefragt.
    Ihm täte es leid, wenn ich mir durch meine Weigerung Beruf und Lebensplanung ruinierte, zumal mir, da werde ich ihm wohl zustimmen müssen, keine schlüssige Begründung eingefallen sei noch aller Voraussicht nach einfallen werde und ich mich von diesen Leuten zudem geistig demütigen lassen müsse. »Denn was, mein lieber Herr Türmer, soll ein Unteroffizier an der Offizierskarriere Abschreckendes finden? Argumentieren Sie grundsätzlich, müssen Sie auch das Ja Ihrer Vereidigung widerrufen. Oder übersehe ich da eine Möglichkeit?« Er hob die flache weiße Tasse an die Lippen und schlürfte.
    Alles, was man von uns verlange, fuhr er fort, sei ein Bekenntnis, ein symbolisches Ja. Wieder führte er die Tasse zum Mund und sah mich über deren Rand hinweg an. »Grusinischer Tee, hab ich aus Tbilissi mitgebracht. Werden Sie auch bald hinfahren, denke ich.«
    Er sei schon zufrieden, wenn ich mir die Sache noch mal durch den Kopf gehen ließe. Über all die Mängel des real existierenden Sozialismus brauchten wir gar nicht zu diskutieren, unsere Standpunkte lägen wohl nicht so weit voneinander entfernt, wie hier manche glaubten. Er jedoch stelle sich immer eineFrage: Welche andere Gesellschaftsordnung hätte es geschafft, in so kurzer Zeit den Hunger zu besiegen, sei es in Rußland oder China oder Kuba. Solange täglich Zehntausende an Hunger und heilbaren Krankheiten umkämen, müsse man die Frage so stellen. »Was war der erste Beschluß von Allende? Ein halber Liter Milch für jedes Kind. Allende war Arzt, er hat gewußt, was not tut.«
    Samthoven riß ein Streichholz an und sog an seinem

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