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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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aber damit war die Sache erledigt. Alle, selbst die Offiziere, hörten Neue Deutsche Welle, und RIAS , SFB oder AFN empfingen wir auf UKW in bester Qualität.
    Ich arbeitete an einer Geschichte, die auf Wache spielte, und brauchte dringend mehr Beobachtungen. Als ich erfuhr, daß meine Kompanie drei Tage vor Weihnachten auf Doppelwache 190 ziehen würde, setzte ich alles daran dabeizusein. Doch als einer von vier Fahrern im dritten Diensthalbjahr gab es kaum eine Chance, dafür eingeteilt zu werden. Mir half nur eine Samaritertat. In heuchlerischer Aufopferung schenkte ich einem lamentierenden Familienvater meinen Urlaubsschein und übernahm seinen Wachdienst. Um den Dank des zu Tränen Gerührten in Grenzen zu halten, verlangte ich von ihm etliche Flaschen Wodka, die er, Kopf und Kragen riskierend, in die Kaserne schmuggelte.
    Selten lohnt bei bewußt herbeigeführten Arrangements der Aufwand, 191 diesmal aber schienen sich meine Hoffnungen zu erfüllen. In der zweiten Nacht, der Nacht zum 24., es schneite, war ich gerade abgelöst worden, als die Streife einen sturzbetrunkenen und brüllenden Matrosen einlieferte. Sie hielten ihn an Armen und Beinen und schwenkten ihn hin und her wie einen Sack. Sie hatten viel zu tun, deshalb luden sie ihn in der Wachstube ab und gingen wieder auf Jagd.
    Der Matrose wohnte in Oranienburg, war also vor der Haustür geschnappt worden. Allein kam er nicht mehr auf die Beine,seine Flüche und Verwünschungen erstickten bisweilen in einem Gurgeln. Schließlich schaffte er es auf die Knie, rutschte wieder zur Seite und erhob einen Arm. Wir sollten ihn laufenlassen. Selbst im Flehen schwang noch etwas von der Verachtung mit, die er als Matrose für unsere grauen Uniformen empfand. Er beteuerte, nicht zu einem Mädchen zu wollen, sondern zu seiner Mutter, er wolle nicht ficken, sondern einfach nur Weihnachten zu Hause sein, das müßten doch selbst »Mucker« kapieren. Er fingerte sich die Uhr vom Arm – die sollte uns gehören, wenn wir ihn freiließen.
    Als ein Unteroffizier und ich versuchten, ihn auf die Beine zu stellen, machte er bereitwillig mit, weil er wohl glaubte, wir brächten ihn ans Tor, und pries weiter seine Glashütter Uhr an, die ihn noch nie enttäuscht habe.
    Wir beeilten uns, ihn in Richtung Arrestzelle zu expedieren, stimmten ihm zu, wenn er seine Häscher Kettenhunde und rote Wichser nannte. Die Abdrücke seiner Halbschuhe im Schnee wirkten gegen die unserer Stiefel geradezu mädchenhaft. Er sah auf, als bemerke er erst jetzt, wohin wir ihn führten. Ich griff fester zu. Ob deshalb oder weil er den Gefreitenbalken auf meinen Schulterstücken gesehen hatte 192 – seine Wut entlud sich gegen mich. Er trat nach mir, seine Fußspitze traf mein Schienbein. Ich schlug zurück, ein Reflex, seine Nase blutete. Er hatte sich losgerissen und ging auf mich los, er raste und trommelte mit blutigen Fäusten auf mich ein. Ich bekam ihn irgendwie zu fassen, umklammerte ihn von hinten, er strampelte und trat, so daß ich mir nicht anders zu helfen wußte, als ihn anzuheben und in den Schnee zu werfen. Aus der Wachstube kam Hilfe. Auf allen vieren drehte sich der Matrose um und suchte im Kreis seiner Peiniger nach mir.
    Zu viert überwältigten wir ihn, drehten ihm die Arme auf den Rücken, rissen seinen Kopf an den Haaren zurück, weil er anfing zu spucken, und stießen ihn vorwärts. Er ließ sich fallen, weshalb wir ihn die Treppe zum Arrest hinunterschleifen mußten. So gelangte ich nun in eine jener Zellen, deren Insasse ich gern gewesen wäre. Am nächsten Abend, dem Weihnachtsabend, saß ich in Nikolais Atelier, trank Glühwein, aß Stollen und hörte das Weihnachtsoratorium. Nikolai schenkte mir Malapartes »Haut«, ein zerlesenes Westtaschenbuch.
    Ich lebte bereits in dem euphorischen Zustand eines Zurückgekehrten, als wir Mitte April, knapp zwei Wochen vor dem 28., dem Tag meiner Entlassung, zu einer Übung fuhren. Wir setzten über die Elbe und verkrochen uns im Kiefernwald.
    In der letzten Nacht, wir warteten auf den Befehl zur Rückkehr in die Kaserne, schliefen wir in den SPW s. Sobald das Innere ausgekühlt war, ließen die Fahrer den Motor kurz an. Das war verboten, aber die Offiziere wollten es nicht bemerken.
    Ich aber war beim zweiten oder dritten Mal eingeschlafen. Mich weckte ein Schmerz in der Schulter. Udo, ein Unteroffizier, kniete förmlich auf mir, um an die Kurbel heranzukommen, mit der die Jalousien am Heck des SPW zu öffnen waren, die einzige

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