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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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das »Wochenblatt« jedoch sei das tödlich. »Wenn Sie jetzt nicht reagieren«, sagte er und richtete seine Tiefseebrille auf mich, »sind Sie erledigt.«
    »Nein«, sagte Jörg, in diese Falle tappe er nicht. Er werde nicht zulassen, daß wir unsere Kräfte verschwendeten. Wir würden das Ruder fest in der Hand halten.
    »Dann rudern Sie mal«, rief Recklewitz, der, weil es keinen Mutzbraten mehr gegeben hatte, ein enormes Eisbein vor sich zerlegte und von erfreulicheren Dingen reden wollte, zum Beispiel vom Fußball, obwohl er wissen mußte, wie lächerlich der Baron Sport fand.
    Heute früh Punkt neun stand Andy in der Redaktion. Er setzte sich an den Computer und reichte mir drei Minuten später die fertige Anzeige: eine halbe Seite! In weißer Schrift stand auf schwarzem Grund nichts weiter als »Andy kommt!«. Er fragte nach »Discount«, den ich natürlich gewährte. Mit meinem Englisch ging es besser als erwartet, ich hatte ja keine Wahl. Trotzdem zweifelte ich dann, ob ich ihn richtig verstanden hatte, obwohl twenty ganz sicher zwanzig hieß und twenty thousand eben zwanzigtausend. Wieder tippte ich auf den Bildschirm, den Computer, den Drucker: All together twenty thousand?
    »Jaa«, rief Andy immer wieder, »jaa!« Ich fragte, ob das nicht auch etwas für uns wäre! »Jaa, absolutely!«
    Es ist alles so einfach! Wir haben siebeneinhalb für den VW -Bus ausgegeben, tausendfünfhundert für den Photoapparat. Auf die Habenseite kommen die Tausendfünfhundert 186 von der Videotheksanzeige, die uns der Baron verschafft hat, plus ein paar andere D-Mark-Einnahmen, macht zusammen dreizehntausendund ein paar Hunderter. Wir brauchen noch sechstausend und ein bißchen D-Mark!
    Ich habe bereits Steen geschrieben und wegen eines Termins mit der Druckerei in Gera telephoniert. So schnell werden wir also nicht untergehen!
    Dein E.
     
    PS : Michaela sagt gerade, eine Frau habe versucht, Lafontaine umzubringen, mit einem Messer oder Dolch. Michaela glaubt, das erhöhe seine Wahlchancen.

 
     
    Sonnabend, 28. 4. 90
    Liebe Nicoletta!
    Mit meiner Versetzung in eine Kompanie aus lauter Neulingen avancierte ich als Jüngster zum Stubenältesten, 187 dem das beste Bett (unten, am Fenster) und der neueste Spind zustanden, dem morgens und abends das Essen gebracht wurde und dessen Wort mehr galt als das eines Unteroffiziers.
    Die Auftragsbriefe hatten sich so gut wie erledigt. Auch sonst hatte ich nicht viel zu tun. Gelegentlich fuhren wir mit den SPW s durchs Gelände, was eine willkommene Abwechslung war, ich mochte diese Fahrten – nur gestand ich mir das nicht ein. Selbst die Feldlager und kleinen Manöver hatten ihre Schrecken verloren, der Sommer 82 war außerordentlich warm.
    Zum Schreiben verzog ich mich in Nikolais Malerwerkstatt 188 ,in der wochenlang dieselben Transparente auf Waschböcken lagen. Morgens rührte Nikolai die Farbdosen um, tauchte immer mal einen Pinsel ein und verzog sich danach in sein Atelier-Kabinett, ein kleines, mit den Fenstern zum Exerzierplatz gelegenes Zimmer, das er mit unglaublichem Komfort ausgestattet hatte. Er verfügte sogar über einen Schallplattenspieler und ein abgewetztes Ledersofa. Von den wenigen, die bei ihm Zutritt hatten, dienten ihm die meisten als Modell.
    Sie werden mir meine Naivität kaum abnehmen 189 , aber ich wunderte mich tatsächlich, daß alle, die ihm Modell saßen, sehr knabenhaft wirkten und einander oft zum Verwechseln ähnelten.
    Angeregt von Baudelaires Prosagedichten, die mir Nikolai aus einem Inselband vorlas, schrieb ich täglich eine oder mehrere Skizzen. Diese Idylle unterbrach nur die Parade zum siebenten Oktober, deren Vorbereitung ein zermürbender, krank machender Stumpfsinn war. Aber das gehört nicht hierher.
    Als wieder der Winter kam, ich war EK geworden, fürchtete ich, die Zeit könnte mir allmählich knapp werden.
    Vieles, das zu erfahren ich als selbstverständlich vorausgesetzt oder mir vorgenommen hatte, drohte in der noch verbleibenden Zeit bis Ende April keinen Platz mehr zu finden. So war ich davon ausgegangen, früher oder später die Arrestzelle kennenzulernen. Ich hätte es auch einmal ganz ohne mein Zutun geschafft, als das Radio auf unserem Zimmer, für das ich als Stubenältester verantwortlich war, von einem Bataillonsoffizier kontrolliert und der rote Strich der Senderwahl nicht hinter einem der aufgeklebten Papierstreifen verschwunden war, mit denen man dieOstsender markieren mußte. Man hatte mir sogar drei Tage angedroht,

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