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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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war zum Kotzen. Daniel, das erfuhr ich erst später, schröpfte sie auch finanziell. 194 Ich versuchte herauszubekommen, ob er schrieb oder malte oder was er überhaupt tat. Angeblich war er Pfleger, ging aber nie arbeiten und lebte (außer von Vera) von der Miete, die ihm Holländer oder Franzosen für seine Wohnung in Berlin zahlten. Daniel fand Dresden unerträglich provinziell. Er wollte keine Stunde länger bleiben, sobald Veras Berlin-Verbot aufgehoben wäre. Vera bewunderte Daniel, weil ihm Worte wie Rhizom und Anti-Ödipus vertraut waren und er West-Bücher besaß, die er nicht verlieh. Sprach er den Namen »Foucault« aus, schien er selbst stillzustehen und auf das Echo seines Fanfarenstoßes zu lauschen. Für Vera war Daniel das Maß aller Dinge.
    Auch ich konnte mich ihm anfangs nicht entziehen. Sein Lächeln war wie ein Köder, den er beim ersten Treffen auswarf. Schon bei der zweiten Begegnung hatte man das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben, denn hinter seiner Nickelbrille fand sich nur ein nach innen gerichteter – heute würde ich sagen: stumpfer – Blick. Alles, was ich sagte, was ich gut und richtig fand, verkehrte sich in seiner Rhetorik ins Gegenteil. Leistete man Widerstand, machte man sich zum Komplizen der Herrschenden, versuchte man zu helfen, galt das als eine besonders perfide Art, die Kontrolle über jemanden zu erlangen. Daniel schaffte es innerhalbeiner halben Stunde, mich in Gegenwart Veras zum kompletten Idioten zu stempeln. Wie wollte ich heutige Prosa schreiben, ohne Foucault, Deleuze, Lacan, Derrida und all die anderen gelesen zu haben? Mit Habermas müsse ich mich nicht abgeben, Adorno und die ganze Frankfurter Schule könne ich vergessen.
    Vera, die mich zur Tür brachte, wollte mich trösten. Daniel werfe mir ja nicht die Unkenntnis seiner Autoren vor, ich sollte nur nicht versuchen zu schreiben, ohne sie studiert zu haben.
    Den Rest gab mir Vera, indem sie mir Arbeiten von einem ihrer Verehrer versprach, Texte über die Armee, die sie »nicht schlecht« fand. Gerade weil Vera ihn sonst nicht ernst nahm – sie machte sich über seine Eifersucht und seinen Hundeblick lustig, mit dem er sie überall verfolgte –, war ich alarmiert. Vor allem beunruhigte mich, daß jemand in meinem Territorium wilderte. 195
    Als ich meine eigenen, von Geronimo akkurat geordneten Aufzeichnungen zur Hand nahm, langweilten sie mich. Was ich da pfundweise in meinen Schreibtisch stopfte, war Plunder. So wie ich früher an der Ostsee Muscheln gesammelt und darauf bestanden hatte, sie ausnahmslos mit nach Hause zu nehmen – wo sie nach wenigen Wochen mit meinem Einverständnis im Müll gelandet waren –, so konnte ich nun die Bündel zusammenschnüren und zum Altstoffhändler bringen.
    Natürlich ermöglichten es die Briefe – es waren ja keine richtigen Briefe, sondern Notizen und Aufzeichnungen –, mir beinah jeden einzelnen der 541 Kasernentage wieder vor Augen zu führen. Aber wozu? Wo waren die Geschichten, von denen ich gehofft hatte, sie aus diesen Seiten herausfischen zu können wieim Herbst die fetten Karpfen aus den Moritzburger Teichen? Mein ganzer Eifer kam mir so kindisch, so eitel und unnütz vor, daß mir gar nichts anderes übrigblieb, als Daniel und Vera recht zu geben. Es war ein Höllensturz.
    Plötzlich war ich ein Jedermann. Ich fühlte mich preisgegeben, ausgeliefert. Ohne das Schreiben war mein Leben wertlos!
    Geronimo, der in Naumburg Theologie studierte, übte mit Franziska fürs Abitur und spielte in einer Band. Wir hatten uns gemeinsam auf dem Dresdner Kirchentag mit CDU -Leuten herumgestritten und Konsistorialrat Stolpe einen Abwürger genannt. Aber sonst hatten wir uns nicht mehr viel zu sagen. Ich beneidete ihn um Franziska und darum, daß er nun in der großen Villa auf dem Weißen Hirsch, von der aus man über die ganze Stadt sah, zu Hause war und mit ihren Eltern auf der Terrasse saß und Tee trank.
    Zu allem Überfluß war mir auf dem Wehrkreiskommando 196 mitgeteilt worden, daß man mich als Unteroffizier der Reserve entlassen habe, eine Schmach, gegen die zu opponieren es zu spät war und die ich nur geheimhalten konnte.
    Meine Rettung war Tante Camilla, die mir jeweils hundert D-Mark zu Weihnachten und 50 D-Mark zu Ostern geschenkt hatte, so daß ich plötzlich 300 D-Mark besaß, zu denen meine Mutter mir ihre eigenen Restbestände gab und obendrein die Zugfahrt nach Budapest und zwei Ladungen Bettwäsche spendierte. Ich blieb zehn Tage und lebte wie ein

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