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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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aber in Liberec wußte niemand etwasvon einer Kleinbahn. Es blieb uns nur der Fußmarsch über den Kamm, die Dämmerung im Rücken. Nie werde ich diese Minuten auf der kahlen Höhe vergessen, das Licht der Abendsonne, die den Weg wie im Theater ausleuchtete, während die Dunkelheit die Berghänge heraufkroch; die Luft war klar, der Horizont ringsherum unendlich weit. Das einzige Geräusch waren unsere Schritte. Als mich Nadja plötzlich umarmte, spürte ich ihren hastigen Herzschlag. Wir hielten uns umschlungen und sahen über die Bergkuppen, als könnten wir in dieses Bild auswandern.
    Es folgten drei Tage Regen, und als es auch am vierten Tag dunkel blieb, machten wir uns auf den Weg nach Dresden. Wortlos schloß Frau Krátká hinter uns die Haustür.
    Damit Sie Nadja und mich verstehen, muß ich Ihnen noch etwas offenbaren, das mich zunehmend verstörte. Nach außen ein ideales Paar, waren wir doch nie eins geworden.
    Anfangs hatte es immer einen Grund gegeben: Nadjas Angst, schwanger zu werden, die Pille wollte sie nicht nehmen. Dann wieder hatte ich keine Kondome dabei, oder wir waren von unseren Eskapaden zu erschöpft. Ich will Sie nicht mit weiteren, mir unangenehmen Details behelligen. Sobald wir die Tür hinter uns schlossen, befiel uns neuerdings eine unerklärliche Scheu.
    Über Vera schwiegen wir lange. Seit ich mit Nadja vor Veras Tür umgekehrt war, hatte ich meine Schwester nicht mehr gesehen. Deshalb konnte ich Nadjas Nachfragen mit einem Schulterzucken abtun. Aber Nadja ließ nicht locker. Ich wurde eifersüchtig auf Vera. Zudem deutete Nadja an, daß sie in Dinge eingeweiht war, die Vera und ich geheimzuhalten geschworen hatten. 209
    Von der gemeinsamen Zukunft mit Nadja entwickelte ich klare Vorstellungen. In Salzburg wollte ich mich als Taxifahrer durchschlagen und in der verbleibenden Zeit schreiben. Sobald aber mein Buch erschienen wäre, brauchte Nadja nicht mehr zu arbeiten und könnte sich ganz auf ihr Studium konzentrieren. Und an den Wochenenden würden wir immer etwas unternehmen, wandern, flanieren oder reisen, nach München, Wien oder Italien.
    Ich steigerte mich in dieses neue Kapitel hinein und wußte, daß meine Augen am Ende jedes Monologes glänzten. Nadja schwieg um so beharrlicher, je mehr Vorschläge ich vor ihr aufhäufte.
    Ich fürchte, sie war ebenso erleichtert wie ich, als wir endlich zum Bahnhof aufbrechen konnten. Doch schon in der Straßenbahn überfiel mich eine große Wehmut und eine ungeheuerliche Angst, Nadja zu verlieren. Ich sagte ihr, daß ich alles dafür gäbe, um die vergangenen Tage wiederholen zu dürfen, selbst wenn sie um nichts von dem Erlebten abweichen würden. Sie umarmte mich, und wir hielten einander fest wie auf dem Bergkamm.
    Bisher war es mir nie schwergefallen, nach unseren Treffen zu den Briefen zurückzukehren, ganz im Gegenteil. Diesmal verzweifelte ich daran, riß Blatt um Blatt wieder aus der Maschine und legte mich schließlich ins Bett, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte. Als ich erwachte, war ich überzeugt, Nadja in dieser Nacht verloren zu haben.
    Von da an versuchte ich nur noch, mich als Briefschreiber so lange wie irgend möglich zu behaupten. Eher fürchtete ich eine Antwort, als daß ich sie erwartet hätte. Auf Anrufe verzichtete ich fast gänzlich, nachdem Nadja auf die Frage, ob sie denn meine Briefe erhalten und was sie in letzter Zeit so gemacht habe, erwidert hatte: Geschuftet, immer nur geschuftet.
    »Was soll ich denn tun?« antwortete ich. Ich sei ja zu allem bereit!
    Um uns zu sehen, fehlte das Geld. Mein Sparbuch war leer, die D-Mark-Zuwendungen von Tante Camilla hatte ich aufgebraucht, Vera um Hilfe zu bitten kam nicht in Frage. Für Briefe mangelte es Nadja an Zeit. Ich akzeptierte das, und in der Folge auch alles andere. Mit Semesterbeginn gab es wieder Stoff für Briefe in Hülle und Fülle.
    Bei meinem letzten Anruf in Salzburg klang Nadja plötzlich wie früher, als es schon eine unfaßbare Zärtlichkeit gewesen war, wenn sie meinen Namen geflüstert hatte. »Ich liebe dich«, schrie ich ins Telephon. »Ich dich auch«, rief sie und lachte. Noch einmal beschwor ich unsere Liebe und hörte, wie mir Nadja Küsse durchs Telephon schickte. Dann war Schluß, weil ich zuwenig Kleingeld parat hatte.
    Mit dieser Pointe sollte mein Briefroman enden, falls ich nicht dereinst noch einen besseren Schluß finden würde.
    In Liebe
    Ihr Enrico T.

 
     
    Montag, 7. 5. 90
    Lieber Jo!
    Ich will es nur gesagt haben: Wenn Du

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