Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
auf mich, an seinem linken Mundwinkel sah ich die Andeutung eines Lächelns. »Und Sie widersprechen mir nicht?« fragte er. »Warum widerlegen Sie mich nicht an meinem Beispiel? Mit den Ausnahmen ist das so eine Sache …« Er spielte wohl auf unsere erste Begegnung an, da hatte er ja über Ausnahmen doziert. »Man kann und sollte sie machen, man muß nur wissen, daß es Ausnahmen sind. Ich leiste mir bereits zwei – Seine Hoheit und Sie! Ihnen jedoch rate ich, vorläufig keine Ausnahmen zu machen, Ausnahmen sind bestenfalls etwas für Fortgeschrittene, und auch da wäre ich sehr, sehr vorsichtig.«
    Marion und Jörg verstanden ihn gar nicht. Für sie ist der Baron ein spleeniger Geschäftsmann, der sich über sein verlorenesFamilienidyll hinwegzutrösten versucht. Ich hingegen entdecke in ihm einen Logiker und Philosophen. Wir wiederum sind für ihn ein Glücksfall, eine Art Tabula rasa, was seine Selbstverständlichkeiten betrifft.
    Jede und jeder muß ihm nun erzählen, wie seine Arbeit funktioniert, der Vertrieb, die Anzeigenannahme, die Rechnungen, die Organisation der Zeitungsproduktion usw. Manchmal verstehen wir nicht mal seine Fragen. Was bedeutet
ursprünglicher
Druckpreis? Wieviel wir
rausgehandelt
hätten, wie hoch der Skonto sei, wieviel Prozent Nachlaß bei Abbuchung usw. Wenn er dann ratlos und traurig zwischen uns hin und her blickt, wissen wir, daß wir schon wieder Geld verschenkt haben.
    Es ist leicht, in ihm eine lächerliche Figur zu sehen, wie es Michaela und ihre Theaterdümmlinge offenbar mit Vorliebe tun.
    Je länger ich darüber nachdenke, desto schwerer fallen mir die Antworten auf seine Fragen, Fragen, die zu stellen mir nie eingefallen wäre und die ich vorschnell als kindisch abgetan hätte. Am meisten begeistert mich jedoch die Gewißheit, daß er mit derselben Aufmerksamkeit, demselben Kraftaufwand und derselben Hingabe auch dann zu uns stünde, wenn wir mit Nein antworteten. In jedem Fall würde er seine sokratischen Fragen stellen und Diagramme verfertigen, nur eben mit anderen Koordinaten.
    Natürlich sehen wir, daß der Verkauf sinkt und sich die Werbeeinnahmen erhöhen, und es ist kein Geheimnis, daß wir entweder mehr Platz brauchen oder mit den Preisen anziehen müssen oder uns – bei Strafe des Untergangs – überhaupt etwas Neues auszudenken haben. All das erhält jedoch eine ganz andere Überzeugungskraft, wenn man zwei Kurven sieht, Verkaufserlös und Werbeeinnahmen, die sich von Woche zu Woche näher kommen, ja regelrecht aufeinander zustreben, so daß man meint voraussagen zu können, wo und wann sie einander kreuzenwerden. Die Addition der beiden Kurven wiederum läßt sich ins Verhältnis zu den Druck- und Lohnkosten setzen. Und schon sprechen wir ganz anders darüber, wie unser Überleben gesichert werden kann. Wir müssen in den folgenden Wochen unseren Gewinn erhöhen, weil wir ein Polster brauchen, um die Wochen nach dem ersten Juli zu überstehen. Was davor funktioniert hat, kann danach leerlaufen. Und spätestens seit dem Diagramm des Barons wissen wir, daß die Verhandlung im Druckhaus über unsere Existenz entscheiden wird. Das Schlimmste aber ist, daß man sich im nachhinein fragt, wie man das je hatte anders sehen können!
    Ach, Jo, verzeih! All das wird Dich furchtbar langweilen! Und meine Erkenntnisse sprühen nicht gerade vor Originalität. Könntest Du Barrista nur erleben! In seiner Gegenwart werden noch die ernstesten Dinge leicht und spielerisch, ja, spielerisch im wortwörtlichen Sinne.
    Wir hatten ihn am Montag wieder zu Hause (nachdem er mehrmals bei Jörg und Marion eingeladen gewesen war und mit ihnen sogar einen Wochenendausflug an die Saale gemacht hat, was mich, ehrlich gesagt, ein bißchen gekränkt hat). Er leidet unter seiner »Hotelzimmergruft« und dem ständigen Restaurantessen. Ginge es nach Robert und mir, säßen wir sowieso viel öfter mit ihm zusammen.
    Seine Blumen verwandeln unser Wohnzimmer jedesmal in ein Tropenhaus. Der vertrocknete Dschungelstrauß erregte noch Aufsehen, als Michaela ihn in den Müll warf.
    Dagegen nahm Michaela den Bericht des Barons über den Fortgang seiner Immobiliengeschäfte sachlich, um nicht zu sagen reglos zur Kenntnis. Sie blieb merkwürdig gleichgültig gegenüber der Tatsache, erheblich mehr als das garantierte Fixum zu erhalten, und fand kein Wort der Anerkennung für die Leistung des Barons.
    Robert quengelte, weil er mit uns Monopoly spielen wollte, das er bezeichnenderweise von seinem Herrn

Weitere Kostenlose Bücher