Neue Leben: Roman (German Edition)
natürlich, oder vorlesen, hier, jetzt, heute abend. Er erkundigte sich auch, ob es in Dresden einen »Rotlicht«-Bezirk gäbe. Ich kannte nur Rotlicht-Bestrahlung als Synonym für DDR -Propaganda und ähnliche Bezeichnungen wie rotes Kloster (für besondersscharfe Schulen), roter Arsch und dergleichen mehr. Ich dachte, Roland meine eine Art Regierungsviertel. 218
Mutter bezeichnete Roland als feinen Menschen, weil er wegen seiner Aufrichtigkeit überall Probleme bekommen würde, hüben wie drüben. Ich hingegen fand ihn anstrengend und anmaßend. In seiner Anwesenheit sah ich den Grund für meine anhaltende Müdigkeit.
Silvester war furchtbar, die Rückfahrt trostlos.
Die Nadja-Briefe hatte ich weggeschlossen. »Vivat Polska!« war mir fremd geworden. Wollte ich weiterschreiben, mußte ich tun, was ich bislang vermieden hatte, nämlich das Geschriebene lesen.
Nein, es war kein Debakel, nicht mal eine Enttäuschung. Natürlich sah ich, wie unfertig, wie verbesserungsbedürftig das Manuskript war – ohne Bedauern strich ich ganze Absätze und Seiten. Ein paar Details allerdings, einige Beschreibungen und Vergleiche erschienen mir geradezu perfekt, ich fürchtete, sie Babel oder Mailer geklaut zu haben.
An diesem Sonntagnachmittag – kalt, sonnig und ohne Schnee – befiel mich jedoch ein Zweifel, der alles befleckte, alles ungenießbar machte: Ich glaubte mir nicht mehr!
Hatte ich nicht selbst einst erwogen, die »Karl und Rosa leben!«-Mauerschrift auf mich zu nehmen? Sollte denn keine meiner Figuren auf die Idee kommen, das »Vivat Polska!« für sich zu reklamieren? Gründe dafür gab es genug. Und was, bitte schön, war eigentlich so schlimm an der Inschrift? Konnte nicht jeder, der einmal etwas vom braven Soldaten Schwejk gehört hatte, eine Umdeutung vornehmen, die den Verhörspezialisten der Staatssicherheit die Luft aus den Backen nahm?
Sehen Sie, Nicoletta, nun bin ich wieder an so einem Punkt angelangt. 219 Es ist so, als spräche ein Erwachsener über die Sorgen und Ängste eines Kindes. Denn Sie werden vielleicht fragen, warum ich mich nicht über die neuen Einfälle gefreut und sie verwendet habe. Gerade das hätte doch der ganzen Sache gutgetan und sie womöglich überhaupt erst interessant gemacht.
Doch wenn mein Lebensgefühl schon nicht tragisch war, mußte es wenigstens die Literatur sein. Und die brauchte Leid. Je größer das Leid, desto besser die Literatur. Lachen Sie nicht! Ich kannte es nicht anders. Unser Part, der östliche, war Leiden und Widerstand oder Mitmachen, tertium non datur. Mein Heldenepos kippte in die Farce; einen Augenblick später war es bereits unmöglich geworden.
Ich hegte den Verdacht, mein falsches Leben habe mir das Schreiben verdorben. Warum hatte ich nicht die Kraft, mein Geschreibe vom Tisch zu fegen und mir statt dessen Kaegis Grammatik 220 vorzunehmen? Warum bin ich nicht bis ans Ende gegangen? Weil ich nicht die Kraft hatte, ohne Schreiben, ohne die Illusion einer Berufung zu leben?
Da ich mich nicht änderte, mußte ich warten, bis sich die Welt änderte.
Ich suchte nach einem Ausweg und fand ihn folgerichtig: Ich mußte zurück, zurück in die Zeit vor meinem Sündenfall, als Leid noch Leid und Gott noch Gott gewesen waren.
Nun, Sie ahnen natürlich, was jetzt folgt. Alsbald lag in verführerischer Klarheit die Novelle um einen Schüler vor mir, der am DDR -System zu zerbrechen droht. Ich brauchte ja nur zu schreiben, was ich erlebt hatte, und dies mit einem geeigneten Schluß zu versehen, einer überraschenden Wendung, die sich vondem,was mir widerfahren war, unterschied, ein Finale, das öffentlich vorweisbar war.
Vom Tonfall her schwebte mir etwas in der Art zwischen »Törleß« und »Tonio Kröger« vor. Die Handlung war schnell skizziert. Plötzlich fühlte ich mich frei und unternehmungslustig, als dürfte ich nun, da ich mir meines Werkes so sicher war, wie man es nur sein konnte – die Vollendung schien eine Frage von Wochen –, auch wieder am Leben der anderen teilnehmen.
Liebe Nicoletta, es ist erst drei. Ich erwache immer früher. Gestern, auf dem Weg in die Redaktion, überlegte ich, was ich Ihnen als nächstes schildern sollte. Plötzlich hatte ich Anton vor Augen. Einen Moment später war ich mir auch schon sicher, daß Anton und seine Begegnung mit Johann noch zu dem Brief gehören, den ich bei mir trug, um ihn bei der Post einzuwerfen. 221
Natürlich brächte es unserer Sache wenig und verwirrte meine Erzählung eher, wollte
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