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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Krankenschein nicht glaubte. Die Gleichgültigkeit, die selbst Samthoven mir gegenüber seit einigen Wochen an den Tag legte, bescheinigte mir, kaum mehr Mittelmaß zu sein.
    Meine Müdigkeit nahm von Tag zu Tag zu. Das einzige, was ich schaffte, war, jeden Morgen ein Türchen im Adventskalender zu öffnen, den meine Mutter mir geschenkt hatte, ein Ritual, an dem wir bis heute festhalten.
    Zu Beginn der Weihnachtsferien fuhr ich nach Dresden und verkroch mich im Bett. Kam meine Mutter nach Hause, wich ich ihr kaum von der Seite.
    Am 24. erwarteten wir Vera schon zum Mittagessen. Zu meiner Überraschung deckte Mutter für vier.
    Roland war mindestens zehn Jahre älter als Vera und bestimmt zehn Zentimeter kleiner als sie. Seine feine Nase paßte nicht zu den wulstigen Lippen. Unter seinem dünnen schwarzen Haar glänzte die Kopfhaut. Er trug eine ungewöhnliche Brille, eckig und randlos, und sprach einen angenehmen Dialekt, den ich für südthüringisch hielt. Auffällig war, daß er sich für alles interessierte, selbst für das Etikett auf der Limonadenflasche.Beim Zuhören nickte er und sagte unentwegt »Okay, okay, okay«, als bedürfe jeder Satz seiner Zustimmung.
    Als Roland seine Genossen in »Torino« erwähnte, wo er letztes Jahr Weihnachten gefeiert habe, wurde mir einiges klar. Ich fragte ihn trotzdem, wie man denn nach Turin komme. »Mit dem Auto«, antwortete er und kaute zufrieden weiter. Ich sagte, daß ich auch gern ein Auto hätte, mit dem man bis nach Turin fahren könnte, schon Salzburg würde mir reichen.
    Unbeeindruckt belehrte mich Roland, daß man sich hier über den Westen viel zu viele Illusionen mache. Mit dem Reisen sei es längst nicht so weit her, wie wir glaubten, schließlich brauche man Geld dafür; und nach zwei oder drei Wochen fange die Schufterei dann wieder an. Und so weiter und so fort.
    »Aber man muß doch das Mittelmeer sehen!« Ach, Nicoletta, hätte ich diesen Satz nur schon damals gekannt! Ich stand auf und ging in mein Zimmer. Bei der Vorstellung jedoch, nun werde die Geschichte mit Nadja kolportiert, bereute ich meinen Abgang.
    Wenig später klopfte es an meine Tür. Ich ließ Roland herein. Er hielt mir seine Schachtel »Reval« hin. Wir rauchten nebeneinander am offenen Fenster. Ich weiß nicht, ob er nur tiefe Züge nahm oder mehrmals zum Sprechen ansetzte. Bevor er ein Wort hervorgebracht hatte, erschien Vera, strich mir übers Haar und zog ihn mit sich fort. Die Zigarette schmeckte fürchterlich.
    Am Abend wurde Roland übermäßig beschenkt. Er selbst hatte nichts vorbereitet, zumindest nicht für Mutter und mich. Vera trug einen Hosenanzug, den er ihr mitgebracht hatte, und streckte das Kinn vor, um uns das Parfüm an ihrem Hals riechen zu lassen. Dann wurde Tante Camillas Paket auf den Tisch gestellt. Vera und ich begannen sofort die Suche nach den Geldscheinen. Schlimmer als die schlimmsten Zollbeamten fetzten wir einvernehmlich das Geschenkpapier von den Ananasdosen und Kaffeepäckchen, rissen Sterne und Schleifen ab und kümmertenuns nicht um die zu Boden fallenden Reste. Da Roland sich angewidert von uns abwandte, trieb ich es besonders arg. Den ersten Hunderter entdeckte ich in der Packung einer Fa-Seife, den zweiten unter dem Plasteeinsatz der Sprengel-Pralinenschachtel. Der dritte blieb verschollen, bis Mutter ihn in den Papierresten fand.
    Am nächsten Tag – immerhin hatte er morgens um halb sechs Mutter zum Dienst gefahren – machte es sich Roland gemütlich. Er lief in Unterhose herum, rauchte, durchstöberte die Speisekammer, aß im Stehen die Schüssel mit Kartoffelsalat leer, trank den Murfatlar 216 aus der Flasche und kratzte sich unentwegt die behaarte Brust.
    In seinem Renault, auf dessen Heckscheibe ein blauer Aufkleber mit weißer Friedenstaube prangte, kutschierten Vera und er nach Meißen, Pillnitz und Moritzburg und gingen mit Rolands Genossen, die bei Vera wohnten, ins Theater.
    Vera und ich sprachen kaum miteinander. Roland war ihre Rache für Nadja. 217 Von meiner Mutter erfuhr ich, daß die beiden bereits beschlossen hatten zu heiraten. Bei Tisch fragte ich, wo sie denn leben wollten. »So ’ne blöde Frage!« sagte Vera. Roland jedoch gestand, am liebsten in den Osten übersiedeln zu wollen. Nur fiele er mit diesem Schritt seinen Genossen in den Rücken.
    Roland sprach immer wieder von den Berufsverboten, auch ihm war das einmal angedroht worden. Mich fragte er, ob ich ihm etwas zu lesen geben könne, etwas von mir Geschriebenes

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