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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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ich Ihnen von allen Begegnungen und Bekanntschaften berichten, die auf die eine oder andere Art von Bedeutung für mich gewesen sind. Doch Anton sollte ich mit ein paar Zeilen erwähnen, damit das Bild, das Sie von meinem Leben erhalten, nicht ganz in Einseitigkeit erstarrt.
    Ich weiß nicht, ob ich das jahrelange Nebeneinander von Anton und mir als Freundschaft bezeichnen darf. Die tagtägliche Nähe jedoch erzeugte eine fast familiäre Vertrautheit, die alle Vorlieben und Geheimnisse, die Anton mit anderen teilte, mitunter aufwog. Unsere Seminargruppe ist immer »die von Anton« gewesen. Er war der einzige Mann, den ich kannte, der außerordentlichen Wert auf Kleidung und Frisur legte und stundenlang über Mode sprechen konnte. David Bowie, dessen Musik er mäßigfand, war sein Idol. Und von weitem ähnelte Anton ihm tatsächlich. Bei besonderen Anlässen, wenn von Studenten das FDJ -Hemd erwartet wurde, erschien Anton im schwarzen Anzug, weißem Hemd und schwarzem Schlips, weshalb manche Professoren anfangs glaubten, er komme von einer Beerdigung, und ihn in Ruhe ließen. Wenn Anton auflachte, seine blonden Strähnen zurückwarf und die Lücken hinter seinen Eckzähnen preisgab, erinnerte er mich immer an ein wieherndes Pferd.
    Anton war zu beneiden. Er hatte eine sehr schöne und warmherzige Frau und einen kleinen Sohn. Gleichwohl war Anton alle paar Wochen in eine neue Frau verliebt. Fast jeden Abend verbrachte er in der »Rose«, einem Studentenclub.
    Antons Seminararbeiten und Übersetzungen fand ich enttäuschend. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, von Anton nie einen eigenständigen Gedanken gehört zu haben. Auf Kritik reagierte er mit Trotz oder sogar Tränen, und so hartnäckig er sich gegen das Blauhemd gewehrt hatte, so schnell war er in Sachen Reserveoffizier eingeknickt.
    An einen Ausreiseantrag dachte Anton nicht im Traum. Er wußte genau, daß seine Erscheinung wie auch unser Studienfach keinesfalls so ungewöhnlich wären wie im Osten.
    Als Johann mich nach der Trennung von Nadja in Jena besuchte, wir hatten eine Ewigkeit nicht miteinander gesprochen, stand plötzlich Anton vor meiner Tür, um sich den Brief seiner neuesten Liebe abzuholen, der an mich adressiert gewesen war. Anton nahm weder mich noch Johann wahr, fetzte das Kuvert auf, verzog sich in eine Ecke, las, wieherte ein paarmal laut und machte sich sofort an die Antwort. Johann mokierte sich über Antons Verhalten, das ich längst gewohnt war. Auf einmal fragte Anton, ob er uns etwas vorlesen dürfe, schrieb die letzten Zeilen zu Ende und sann einen Augenblick vor sich hin, während wir bereits auf seinen Vortrag warteten.
    Anton las monoton und wiederholte mitunter einen Satz, um ihn dann gleich zu verbessern. Antons Geschichte handelte vom lieben Gott, davon, wie Gott die Menschen macht.
    Nach wenigen Sätzen lauschten Johann und ich völlig gebannt. Noch mehr als die Handlung setzten mich die Wendungen und Details in Erstaunen. Ich erinnere mich an einen Engel, der am lieben Gott vorbeischwebt und singt: »Du, der Du alles siehst …« Aber der liebe Gott sieht eben nicht alles. Schließlich läßt der liebe Gott seine Hände allein arbeiten, um kein Auge mehr von der Erde zu lassen. Und wie Kinder beim Versteckspiel fragt er seine Hände immer wieder: »Schon?«, denn er will sich überraschen lassen. Plötzlich fällt da etwas ganz aus seiner Nähe auf die Erde, Gott befürchtet Schlimmstes. Da treten seine Hände, lehmbeschmiert und ohne Menschen, vor ihn hin. Nach einem Donnerwetter schickt Gott seine Hände weg: »Macht, was ihr wollt, ich kenne euch nicht mehr!« Doch ohne Gott gibt es keine Vollendung, weshalb die Hände unzufrieden und müde werden und letztlich niederknien und den ganzen Tag Buße tun. Deshalb scheint uns, Gott ruhe immer noch aus und der siebente Tag dauere fort.
    Johann bewegte die Zehen in seinen Wollsocken und suchte meinen Blick. Ich sah auf Anton wie ein Lehrer auf seinen Primus und versuchte, meine Bestürzung, so gut es ging, zu verbergen.
    »Genial!« rief Johann.
    Der eigentliche Schock jedoch war, daß Anton die Blätter zusammenfaltete und um Kuvert und Briefmarke bat, als legte er keinen Wert darauf, solche Geschichten zu bewahren. 222
    Ich sagte, dieses Werk müsse gefeiert werden, und lud Antonein,mit uns zu essen. Anfangs fand ich nichts dabei, in den Hintergrund zu treten. Ich war der Gastgeber und kümmerte mich um die beiden, die schnell Gefallen aneinander fanden. Was mich

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