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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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verstimmte, war die Selbstverständlichkeit, mit der sie meine Dienste annahmen. Während Anton sein Repertoire von Ansichten abspulte und Johann unter dem Eindruck der Geschichte bereit war, sie zu erwägen oder sie zumindest nicht gleich zu verwerfen (Anton schwärmte für Klaus Mann und Erich Kästner), begannen sie bereits zu essen und zu trinken, während ich wie ein Kellner zwischen Küche und Zimmer hin- und herlief. Ein Blick, ein Lächeln – und ich wäre versöhnt gewesen. Anton war bei seinen musikalischen Vorlieben angelangt, und Johann versuchte herauszufinden, was für eine Art von Musik King Crimson machte. Sie bemerkten nicht mal, daß ich mein Weinglas hob, ihre waren bereits wieder leer.
    Nach dem Essen brach Anton auf, Johann fragte, was er vorhabe, und Anton lud ihn ein, mit ihm in die »Rose« zu gehen. Sie kamen erst lange nach Mitternacht zurück, verschliefen den halben Tag und hockten dann in der Küche zusammen, nachdem sie sich über meinen Kühlschrank hergemacht hatten. Es war Anton, der Johann zum Bahnhof brachte. 223
    Am Montag sagte mir Anton, er habe gedacht, wir kennten Rilkes »Geschichten vom Lieben Gott.« Es sei schon ein bißchen unfair von mir gewesen, ihm die ganze Zeit meinen Besuch aufzuhalsen. Ob ich zur Entschädigung einen Spaziergang mit ihm machen würde. Von Johann erhielt ich einen Brief, in dem er bedauerte,daß wir am Wochenende so wenig Zeit füreinander gehabt hätten.
    Ein paar Tage später schrieb mir Vera, daß sie den Ausreiseantrag gestellt und sich von Roland getrennt habe.
    Soviel für diesmal von meinen Verwirrungen.
    Ihr Enrico T.

 
     
    Mittwoch, 9. 5. 90
     
    Lieber Jo!
    Was hätten wir denn Deiner Meinung nach machen sollen? Woher sollten wir sonst von heute auf morgen so viele Tische und Stühle bekommen? Die »Lebenshilfe« bekam ja unseren Obolus. Hätte man das alles verbrennen oder schreddern sollen? Für Jörg sind es Trophäen. Michaela hat bei der Besetzung der Staatssicherheit 224 einen silbernen SPW im Matchbox-Format geklaut, als Beweis, daß sie tatsächlich »drin« gewesen ist!
    Gestern früh kam mir Ilona heulend entgegen. Wo ich denn bliebe. Fast wäre sie mit ihren Fäustchen auf mich losgegangen. Sie habe mich schon holen wollen, aber sie könne ja die Redaktion nicht allein lassen, das habe sie dem Herrn von Barrista auch gesagt. Dreimal habe der angerufen und sie zur Schnecke gemacht!
    Es war ein schöner Morgen, warm und voller Vogelgezwitscher! Auf dem Markt hatte ich Brötchen gekauft. Ich bat Ilona,uns einen Kaffee zu machen, setzte mich neben das Telephon und grübelte, was Barrista gewollt haben könnte.
    Vorgestern waren wir in Gießen gewesen. Der Zeitungschef, nicht viel älter als ich, hatte Jörg und mich äußerst herzlich empfangen. Wir hatten das für einen Bluff gehalten, denn auf den Grund unseres Besuches war er mit keiner Silbe eingegangen. Als Jörg die Angelegenheit offen angesprochen und die Drohungen des Chefs vom Dienst wiederholt hatte, hatte der Zeitungschef schallend gelacht. Davon wisse er nichts. Er bitte um Entschuldigung, ja, wirklich, daran sei er nicht schuld, höchstens insofern, als er den Chef vom Dienst beauftragt habe, uns einmal einzuladen, mehr nicht, vielleicht habe der geglaubt, anders seien wir nicht zu einem Besuch zu bewegen, nur so könne er sich einen Reim darauf machen. Er wolle nichts weiter, als aus erster Hand etwas über Altenburg erfahren. Danach hatte er uns durch das ganze Haus geführt und uns zu einem kleinen Festmahl in ein chinesisches Restaurant eingeladen. Zum Schluß aber hatte er vom Kellner eine Quittung verlangt. 225
    Als Ilona mit dem Kaffee kam, brachte ich etwas Leben in ihre angststarren Züge, als ich von der Monte-Carlo-Idee des Barons erzählte. Erst als Ilona auf das Telephon zeigte und vorwurfsvoll rief: »Und nu sahgds keenen Mucks, heij!«, bemerkte ich die Stille. Nicht nur das Telephon schwieg. Es kamen auch keine Besucher. Ich nahm den Hörer ab und lauschte dem Freizeichen.
    Ilona goß die Pflanzen, ich spitzte Bleistifte. Als sie dann mit den Händen im Schoß dasaß und auf ihre Schuhe starrte, forderte ich sie auf, doch bitte irgend etwas zu tun.
    Gestern sei sie bis zehn dagewesen, um alles zu erledigen, am Tage komme man ja zu nichts. »Das ist doch verhext«, rief sie und heulte wieder los, »wirklich verhext!« Und da Ilona fortwährend und ohne besonderen Anlaß übersteigerte Ängste hegt, fragte sie: »Meinst du denn, daß etwas passiert ist,

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