Neue Leben: Roman (German Edition)
eine Atombombe?«
Ich schickte sie auf den Markt, damit sie sich vom Gegenteil überzeugt. Nachdem sie gegangen war und ich allein wartete, hätte mich tatsächlich jeder Anruf und jeder Besucher erfreut.
Als es dann endlich klingelte, zuckte ich zusammen. Ich meldete mich und wußte bereits nach Barristas »Na, wie geht’s?«, daß sich die Welt in vollkommener Ordnung befand. »Raten Sie mal, was ich für Sie habe?« Ganz egal, was Sie für uns haben, hätte ich am liebsten gerufen, und wunderte mich nicht im geringsten, daß im selben Moment die Tür aufging und Jörg und Marion eintraten.
»Wir haben es!« triumphierte der Baron, und ich genoß für einen Augenblick meine Ahnungslosigkeit. »Sechzigtausend! Türmer, für sechzigtausend!« Ich begriff noch immer nicht. »Der Krämer unter Ihnen hatte es schon fast in der Tasche! Ihr Haus!«
»Sie sind ein – Genie!« rief ich. »Gott« hätte ich beinah gesagt, doch auf dem ersten Buchstaben noch kehrtgemacht. »Ein Genie!« wiederholte ich, um ihm zu zeigen, daß ich das Wort auch richtig aussprechen konnte. Seit wir hier eingezogen sind, spekulieren wir über ein Verlagshaus mit allem Drum und Dran. Und plötzlich ist alles zum Greifen nah!
Als wir in Gießen waren, hatte Piatkowski, der nun doch gewählt worden ist, obwohl er so weit hinten auf der Liste stand, den Baron angerufen. Der Baron meldete sich sofort »mit ein paar Blümchen« bei Madame Piatkowski an. Allerdings stellte sich heraus, daß ihr nur ein Fünftel gehört, ihrem ältesten Bruderhingegen zwei Fünftel und den beiden Schwestern der Rest. Er hatte gehofft, das alles telephonisch klären zu können, mußte jedoch, um überhaupt eine Chance zu haben, bis in ein Dorf südlich von Bonn fahren, wo der Clan sich schon versammelt hatte.
Etwas zu spät habe er gemerkt, daß es weniger auf den Bruder als auf dessen Frau und den Mann der Jüngsten angekommen sei, denn die hätten plötzlich das große Geschäft gewittert. Daraufhin habe er ihnen klargemacht, daß der Krämer auch in hundert Jahren keinen D-Mark-Kredit bekommen würde, da könnten sie lange warten, und dann habe er die Zeitkarte gezogen, wie er sagte, und behauptet, das Einverständnis jetzt und hier zu benötigen, andernfalls trete eine andere Option seiner Klienten in Kraft. Gegen zehn Uhr abends waren sie auseinandergegangen. Kurz nach Mitternacht habe ihm Recklewitz, er wohnt irgendwo da drüben, in Pyjama und Bademantel die nötigen Verträge aufsetzen müssen. Er selbst habe dann Mühe gehabt, so früh am Morgen das nötige Kleingeld flüssigzumachen, um den Koffer für die Familie zu präparieren.
Der Baron bedauerte sehr, mich nicht mit dabeigehabt zu haben. Die drei Geschwister nebst Anhang seien nach dem Blick in den Koffer so benebelt gewesen, daß sie auf der Stelle zugestimmt hätten. Natürlich habe unser Einverständnis gefehlt, aber mit sechzigtausend sei er wahrhaftig kein Risiko eingegangen, für sechzigtausend, habe er gedacht, werde er es notfalls überall wieder los. Da sie das Geld quasi schon in Händen hielten, habe er keine Bedenken, daß sie den Köder wieder ausspucken könnten. Heute nachmittag um drei sei Notartermin. Und als wäre das alles nicht schon genug, buchte der Baron bis auf weiteres für die kommenden Ausgaben jeweils eine halbe Seite Anzeigen. Eine Freundin von ihm werde in Kürze ein Reisebüro in Altenburg eröffnen und nebenbei den Leuten beibringen, was Zeitungsanzeigen seien …
Dem Baron gelingt alles! Auf seinen Artikel über die Frau, der man 1941 öffentlich das Haar abgeschnitten hat, gab es zwar keinerlei Reaktion. Aber der Baron hat die Nachfahren jenes unseligen Friseurs ausfindig gemacht, der es sich damals zur Ehre angerechnet hatte, die Frau zu scheren. Den Nachfahren gehört direkt neben dem Rathaus ein Frisiersalon. Und? Ahnst Du die Pointe? Nun hat der Baron tatsächlich sein Ladengeschäft am Markt! Für Andy beginnt der Mietvertrag am 1. Juni!
Nach dem Mittagessen wollte ich mit Ilona die Postmappe durchgehen, fragte nach den bisherigen Einnahmen und wunderte mich über ihre merkwürdige Gestik. Hinter mir in der Ecke stand Frau Schorba aus Lucka. Ihr dunkles Kleid fiel wie bei einer Oratoriensängerin vom Busen senkrecht ab bis kurz über die Schuhspitzen. Frau Schorba rührte sich zunächst nicht, als wollte sie das Stelenhafte ihrer Erscheinung bewahren. Stumm folgte sie mir dann durch den Gang nach hinten, wo ich ihr den Stuhl neben den Schreibtisch, also in
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